Eine Rezension von Karla Kliche


cover  

 So fing es an

Klaus Wilczynski: Auf einmal sollst du ein Fremder sein
Eine Berliner Familiengeschichte.

verlag am park, Berlin 1998, 291 S.

 

„Eher lag es in seiner Absicht, Geschichte lebendig werden ... zu lassen, um den historischen Sinn seines einzigen Enkels zu schärfen.“ Diese vermutete Intention der Erzähllust seines urpreußischen jüdischen Großvaters scheint mir auch die von Klaus Wilczynski - Jahrgang 1920, bis 1937 in Berlin lebend, im späteren Berufsleben Journalist - für die Niederschrift seiner Kindheits- und Jugenderinnerungen zu sein. Und dafür ist ihm im Sinne des Anfangszitats zu danken, besonders was die Zeit ab 1932 betrifft.

In diesem Jahr 12jährig, erlebt er seine alltägliche und politische Umwelt zunehmend reflektierend und erfährt mit dem langsamen Erwachsenwerden den allmählichen Prozeß der Ausgrenzung. Insofern ist der Titel nicht gut gewählt, assoziiert das „Auf einmal“ doch Plötzlichkeit. Demgegenüber ist es aber das Verdienst dieser Erinnerungen Klaus Wilczynskis, daß sie gerade das Schleichende, das Systematische der Maßnahmen Schritt für Schritt nachvollziehbar machen, das, was zur Gewöhnung, zur weitgehend und zunehmend als selbstverständlich akzeptierten Ausgrenzung der Juden führte. Bis 1937, als die resolute, illegal politisch arbeitende Mutter den 17jährigen in die Emigration nach England schickt, dominiert vielfach das „Noch“: Noch war der Antisemitismus (abgesehen von dem ohnehin seit dem Kaiserreich latenten) in Berlin nicht so aggressiv, wie er ihn in Südwestdeutschland auf einer Reise erlebte, noch darf er als Sohn eines jüdischen Frontkämpfers des Ersten Weltkriegs das Gymnasium besuchen und abschließen, noch wehren sich „arische“ Mitschüler, der HJ beizutreten, noch gibt es neben strammen Nazi-Lehrern solche, die lümmelige HJ-Bengels in die Schranken weisen, noch wird er von der Mehrzahl seiner Mitschüler nicht geschnitten, noch kann er sich an Schülerstreichen beteiligen, ohne als Jude diskriminiert zu werden, noch darf er Theater besuchen ... Aber: Er muß - absurd - an den neuen Fächern „Rassenkunde“ und „Wehrunterricht“ teilnehmen. Aus dem Sportverein wird er „auf feine Charlottenburger Art“ ausgeschlossen. Als Jugendlicher, dessen bester Freund bereits emigriert ist, im suchenden Alter in einer auf kollektive Strukturen und Bündnisuniformen jeglicher Couleur (im wörtlichen Sinne: von Braun bis Blau) ausgerichteten Gesellschaft - wo sich anschließen? Die zionistische Jugend kommt nicht in Betracht, die Wilczynskis empfinden sich als Deutsche; der Versuch, sich einer deutsch-jüdischen Jugendvereinigung anzuschließen, scheitert. Endlich findet er „Gemeinschaft“ in einem Ruderclub, einem inzwischen jüdischen, denn alle deutschen Mitglieder sind ausgetreten ...

Zeitgeschichtliches - vom Reichstagsbrand über den ersten Judenboykott 1933, den Röhmputsch, die Verkündung der Nürnberger Gesetze, das Blendungsunternehmen Olympiade - wird aus dem unmittelbaren Erleben erzählt. Sicher geht auch hier später Erfahrenes mit ein, doch das fast unmerklich, lebendig vermittelt sich das konkrete Erleben eines Heranwachsenden in für ihn zunehmend unwirtlich und feindlich werdender Umwelt.

Dieses mehr oder weniger Authentische ist im ersten Teil weniger gelungen. Konnte gar nicht gelingen. Denn konsequent aus der Ich-Sicht erzählend, kommen zwar Erlebnisse des Kindes Klaus W. zur Zeit der Weimarer Republik zur Sprache, die vielfach, für sich genommen, eher banal zu nennen wären. Unwillig reagierte ich als Leser auf die häufigen politischen Belehrungen und „Zeitungsschauen“, die immer wieder mit den Denk- und Sichtmöglichkeiten eines Kindes kollidieren. Beinahe hätte ich das Buch weggelegt - gut, daß ich es nicht tat.

Möglicherweise hat dieser gestalterische Bruch mit dem zu tun, was sich im Untertitel ausdrückt: dem Chronologischen. Eine Frage der Form also. Die beiden Anfangskapitel motivieren die Erinnerung: Nach „zehn Jahren und einem Krieg“ kehrt Klaus Wilczynski zurück in das zerstörte Berlin, nachdem er, so erfahren wir in aller Kürze, 1940 in England interniert und nach Australien deportiert worden war, in der australischen Armee gegen Japan gekämpft hatte. Der Anblick des unbeschädigt gebliebenen Hauses mit der ersten Wohnung der jungen Zahnarzt-Familie Wilczynski löst das Erinnern aus. Doch Erinnerung ist nicht chronologisch, nicht linear. Denkbar, daß alles, was in diesem ersten Teil von der Familiengeschichte mitgeteilt wird, seinen Platz - abgehend von der Chronologie - erinnernd im zweiten gefunden hätte, auch die Mitglieder der verzweigten Verwandtschaft mütterlicherseits.

Die Erinnerungen an sie, selten werden sie im ersten Teil sehr plastisch, haben allerdings auch einen Grund, eine ganz wesentliche Funktion: Das Buch endet mit einem erschütternden Dokument, das der Autor in dem ihm erst „viele Jahre“ nach ihrem Tod (1973 in Berlin-Mariendorf) zugänglichen Nachlaß seiner Mutter gefunden hat. In einem Brief von 1949 an eine nach Bolivien emigrierte Cousine schildert sie in Grausen machender notwendiger Kürze die Schicksale von Verwandten und Bekannten ab 1942, der beginnenden Endlösung ... Das Ergebnis dessen, was der jugendliche Klaus W. in seinen schleichenden Anfängen und mit dem ersten, dem rechtlichen Schritt zum Holocaust (den 7 Paragraphen der Nürnberger Gesetze) erlebt hat. - Eine weitverzweigte Berliner jüdische Familie so gut wie ausgelöscht.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite