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Bernd Schremmer

Freudenschiessen.
Herrlicher Tag

Auszüge aus einem (noch unveröffentlichten) Goethe-Roman.

 

Zum Autor: Jahrgang 1944, geboren in Dessau-Roßlau, aufgewachsen und Schulzeit in Dessau, nach dem Abitur Bühnenarbeiter und Maurerlehre, anschließend Studium der Germanistik, Geschichte und Pädagogik in Leipzig, elf Jahre Lehrer im Kreis Nauen, seit 1979 freiberuflicher Schriftsteller, ansässig in Staaken, jetzt Berlin-Spandau.

Wichtigste Veröffentlichungen: Ein sonderbarer Entschluß (Erzählungen 1978), Die Sache Luther oder Nicht alle Wege führen nach Rom (Schauspiel 1982), St. Helena oder Die Chance der Verbannung (Roman 1986), Metternich. Kavalier und Kanzler (Biographie 1990), Schworn oder Die Anwesenheit des Todes (Roman 1996).

Zum Buch: Der Roman führt in das Weimar des Jahres 1814, nach der Befreiung von der napoleonischen Fremdherrschaft, nach der Wiederzusammenführung der Deutschen, in die Epoche, die Goethe, die Hauptfigur des Romans, „die Umkehrung Deutschlands“ nannte. Es ist der Roman einer Wendezeit und der Bewältigung einer individuellen künstlerischen Krise, zwischen Erinnern und Neuanfang, zwischen Selbstzweifel und Aufbruch zum Alterswerk (West-östlicher Divan). Und zugleich ist es der Roman einer Liebesbeziehung zwischen Goethe und Caroline Ulrich, der Gesellschafterin seiner Frau Christiane.

(Abdruck der Kapitel 1 und 2, Teile aus Kapitel 3, 5 und 6)

Er war - an diesem 9. April - wie gewöhnlich um sechs Uhr aufgestanden, hatte ein kleines Frühstück zu sich genommen, mit etwas Kaffee, und war dann, allein, die Frauen blieben im Vorderhaus, über die Veranda hinuntergegangen in den Garten.

Die morgendliche Luft erfrischte, die Sonnenstrahlen, noch schräg, knapp am Treuterschen Pavillon vorbei, spendeten schon ein wenig Wärme, auf den Rasenflächen lag glitzernd der Tau, in den Blumenrabatten leuchteten die ersten Frühlingsfarben von Krokussen und Narzissen; in der Nachbarschaft war es noch still, Karsamstag, da ließ es selbst Leinweber Herter mit seinem geräuschvollen Gewerbe nicht gar zu früh angehen; nur die Vögel spektakelten in den Sträuchern, flogen hin und her über die Ackerwand, eilig, geschwätzig, die Vögel, als wüßten sie bereits etwas.

Er erwog einen Spaziergang in den nahen Park, auf einen kräftigenden Blick ins Grüne, ins Weite. Es kam, er wußte es wohl, es mußte kommen, war ja bereits gekommen irrtümlicherweise, vor drei Wochen, Wolff, der ungestüme Mime, der mitten bei Tische hereingeplatzt war mit der Siegesnachricht. Ach, die voreiligen Gemüter, die so ergeben, so teilnehmend und ihn doch nicht recht begreifend sich zurücknahmen und warteten auf das endlich bekennende patriotische Wort von ihm.

Welch ein stiller, feierlicher Morgen. Die Farben, wahrlich, waren Taten des Lichts.

Er stand noch immer bei den Rabatten und sann auf einen ausgedehnten Gang durch das Tal, bis zu den Grotten, bis vor Ehringsdorf vielleicht und auf dem Rückweg zum Gartenhaus; er war den ganzen Winter über nicht dort gewesen, in dem stillen Häuschen am Hang, wo er einst, vor achtunddreißig Jahren, in dem verwilderten Garten sein Nest gefunden hatte, mit dem Blick hinüber zum Haus der Oberstallmeisterin, in deren Fenster abends die Kerze brannte; in Sturm gewickelt, in Schnee verweht, Erdkulin für ewig, so hatte er damals geschrieben. Er mußte lächeln. Man würde, wenn es denn kam, ihn heute kaum dort vermuten.

Er wandte sich wieder dem Haus zu und war nun tatsächlich fast entschlossen, die Schlüssel zu holen für das kaum noch benutzte Refugium und für die Pforte in der Mauer - als er, von fern her, die Schüsse vernahm.

Pistolenschüsse. Gewehrschüsse. Vereinzelt zunächst, dann ganze Salven. Sie kamen vom Schloß her.

Die Stadt, noch kaum erwacht, hielt für Augenblicke halb ungläubig inne.

In das Schießen aber mischten sich bald Stimmen. Jubelrufe. Hurrah-Rufe. Vivat-Rufe. Und schon drang das Schießen und Rufen vom Marktplatz her.

Wie eine Nachricht verbreitete es sich nun in alle Richtungen, in die Gassen, über die Plätze, bis zu den Stadttoren. Und es war eine Nachricht. Überall flogen die Fenster auf. Ein jeder rief, was er hörte, dem anderen zu. Noch ehe man recht wußte, was man hörte. Man rannte vor die Tür. Lief zum Haus des Nachbarn, schon halb im Taumel, um sich gegenseitig des noch nicht ganz Faßbaren zu versichern. Da begannen die Glocken zu läuten.

Von allen Türmen hob das Läuten der Glocken an, vom Schloßturm, von der Stadtkirche, von St. Jakob. Nun konnte kein Zweifel mehr bestehen. Es war die Nachricht. Die Nachricht, auf die jeder gewartet, die ein jeder herbeigesehnt hatte. Man fiel einander in die Arme, mit Tränen in den Augen. Man vergaß den Hader, den Streit, den man noch gestern mit dem Nachbarn gehabt hatte. Man beglückwünschte sich. Man jubelte. Und manch einem versagte die Stimme. War es auch wirklich wahr? War es wirklich vorüber? Die Kinder johlten und tanzten oder klammerten sich an den Rockzipfeln der Mütter fest. Und unter den Frauen standen nicht wenige plötzlich erschrocken, wie schuldbewußt über die eigene Freude, sie dachten an den Sohn, an den Gatten oder den Bräutigam. Ob er noch lebte? Ob er auch unversehrt heimkehrte?

Die Glocken läuteten. Vom Rathaus schmetterten die Trompeten. Estafetten eilten durch die Straßen, hinaus ins Land, in alle Himmelsrichtungen. Immer lauter, immer überschwenglicher erschallten die Hoch-Rufe. Und schon liefen die ersten Berichte um: Die Herzogin habe die Nachricht im Park am Stern empfangen, die Großfürstin in der russischen Kirche, wo sie sogleich ein Te-deum habe anstimmen lassen, um anschließend unter dem Jubel der Menge zum Schloß zurückzugehen. Vivat! Hurrah! Es lebe die Freiheit! Es lebe der Herzog! Es lebe das Vaterland!

Er war ins Haus zurückgekehrt.
Die Wette war lange verloren.
Er schickte nach Kräuter. Und begab sich hinauf in sein Arbeitszimmer.

Endlich krachten vom Exerzierplatz her auch die Kanonen. Und wer noch ein Schießgerät besaß, lief nun ins Haus, versah sich mit Pulver, Schrot oder Kugeln und rannte zum Schloß. Da galt keine Polizei mehr. Man schoß sich die Wut, den Haß, den jahrelangen Stau von der Seele. Und die Böllerschüsse hallten weiter über der Stadt, daß man es bis nach Tiefurt, nach Ettersburg, bis nach Jena und Auerstedt hören konnte. Und auf dem Marktplatz bildete die zusammengeströmte Menge einen Kreis, kniete nieder und stimmte an: Nun danket alle Gott!

Schon im vorigen Sommer war die Wette verloren gewesen. Peucer hatte gesagt: Krieg. Er hatte gesagt: Frieden. In Dresden war das gewesen, Mitte August, als der Waffenstillstand nach der bereits abgelaufenen Frist weiterhin zu halten schien.

Wer alles wollen kann, will auch den Frieden.

Sie wetteten um einen Dukaten.

Mitten im waffenstarrenden Getümmel der sächsischen Residenz war er mit dem Regierungsrat umherspaziert, hatte Kunsthändler und Antiquare aufgesucht, und sie hatten sich wohl auch über Politik unterhalten.

Es gibt kein Schicksal, es gibt nur Politik. Der schöne berühmte Ausspruch des Kaisers. (Über dessen Gültigkeit man allerdings streiten konnte.)

Noch zwei Tage zuvor, am Brühlschen Palais, hatte er ihn zum letzten Mal gesehen. Der Kaiser aber hatte ihn nicht bemerkt. Mit kleinem Gefolge hatte er die Schanzarbeiten inspiziert. Immerhin, Schanzarbeiten! Die dienten bekanntlich der Verteidigung.

Regierungsrat Peucer hätte die Wette wohl auch gern verloren. Und sei es nur ihm, dem geschätzten Freund, zuliebe. Zum Glück hatte Peucer, die gute Seele, weder damals in Dresden noch später hier in der Stadt von ihrer Wette herumerzählt.

Man wußte freilich auch so, wie er dachte.

Wußte man es wirklich?

Ein halbes Jahr später, im Februar, als die Verbündeten schon jenseits des Rheins fochten, hatte er seine Wettschuld beglichen, in einer versiegelten Briefschaft, und dem rheinischen Golddukaten hatte er, auf feinstem Papier, mit roter Tinte geschrieben, zwei launige Distichen beigefügt.

Nein! frechere Wette verliert man nicht,
Als an der Elbe ich dazumalen.
Jetzt da man überm Rheine ficht,
Will ich mit Rheingold sie bezahlen.

Immer ausgelassener wurde das Schießen. Immer fröhlicher der Jubel, das Jauchzen, das Singen. Überall zog Musik auf. In den Wirtshäusern wurde ausgeschenkt, was die Fässer noch hergaben nach den Jahren der Not und des Mangels. In den Bürgerhäusern kam man zusammen und speiste, bescheiden genug, dafür um so stürmischer bewegt, unter immer neuen Trinksprüchen.

Im Schloß fanden sich bald nahezu alle Räte und Staatsbeamte ein, um die Herzogin, die Trostgestalt in all den Jahren, an Stelle des abwesenden Landesherrn zu beglückwünschen zu dem Sieg der sittlichen Mächte über die Gewalt. „O welch ein anderes Ostern als 1813!“ begrüßte die Fürstin den Ersten Minister, den Geheimen Rat Voigt, der sich sichtlich bewegt zeigte. Und Professor Jagemann, der Überbringer der freudigen Botschaft, der die ganze Nacht durchgeritten war, wurde umlagert und immer wieder gedrängt zu erzählen, wie es aussehe in Brüssel, im Feldlager des Herzogs, wie alles zugegangen sei. Und schon wurden allgemein Vorschläge und Gedanken laut für einen großen Ball, den man geben müsse, da nun endlich eine neue Zeit angebrochen sei.

Er arbeitete den ganzen Vormittag hindurch, im gewohnten Auf- und Abgehen, zunächst mit dem jungen Kräuter, dann mit Uli, der hübschen, braunäugigen Caroline Ulrich, die so flink und ausdauernd und anmutig, wenngleich nicht immer ganz fehlerfrei, die Feder zu führen wußte.

Der Anfang der herrlichen Reise.

Niemand kam, der ihn störte. Kein Besucher, der ihm die Nachricht überbracht hätte.

Erst in der Mittagsstunde erschien, wie fast jeden Tag, der Professor. Sie sprachen über das gemeinsame Pensum am Roman und über August, über Neigungen, die man als Eltern in sich verspürte.

Am Nachmittag schrieb er an Seebeck in Nürnberg bezüglich seines Aufsatzes über die Doppelbilder des rhombischen Kalkspates und an Fürst Radziwill, der ihn kürzlich besucht hatte, wegen der Schauspielmusik.

Am Abend notierte Uli für ihn ins Tagebuch: „Nachr. von der Einnahme von Paris. Freudenschießen den ganzen Tag. Dictirt Carlsb. - Brenner. Riemer Mittag. Sprach Verhandlungen Psychologische Bulletins pp.“

pp.
Fahre fort, fahre fort!
Tag zwischen Kreuzigung und Auferstehung.
Noch war der Kaiser nicht entthront,
Glockenklang und Chorgesang.
Nacht. Erste Szene.
Welch tiefes Summen, welch heller Ton?
Wohl kaum.
Das Schießen und Singen und Jubeln ging bis in den späten Abend. Die Stadt illuminierte mit Fackeln, mit Freudenfeuern auf den Hügeln, mit Kerzen in den Fenstern.
Im Haus Seiner Exzellenz blieben alle Fenster dunkel.
Eine eroberte Hauptstadt, war das die ganze Nachricht? Oder war der Nachricht zweiter Teil schon unterwegs?
Man saß oben in der Mansardenwohnung bei August und spielte bei einem Gläschen Punsch zu viert Karten.
Was war vorüber? Das Zeitalter der Kriege, das zweiundzwanzig Jahre gewährt hatte?
Was war gewonnen? Der ewige Friede?
Ihm war ein wenig bange um den Jungen. Er trank und scherzte und lachte, und war doch so still. Er mußte wohl mit ihm reden. Aber was konnte er ihm sagen?
Auf den Straßen wurde schon krakeelt. Und selbst nebenan, im Gasthof Zum weißen Schwan, wo er so oft ihn besuchende Freunde einlogiert hatte, ging es inzwischen wild und hoch her.
Vielleicht warfen ihm nächtlicherweile ein paar vaterlandstrunkene Gesellen die Scheiben ein.
Er zog die Vorhänge zu. Sie löschte das Licht. Das Bett knarrte leise, als er sich zu ihr hinüberbeugte. Von ihren Lippen atmete süß noch der Punsch.

Schlafen.
Versinken.
Freudenschießen.
Unterm Fenster blökten Stimmen, sie kamen nicht fort.
Er stützte sich auf. Er strich ihr die Wangen, küßte ihr Haar. Ihre Augen, dunkler noch als das Dunkel, sahen ihn an, und ihm war, als wollten sie, wie zum Trost, mit den seinen äugeln. Er schloß ihr die Lider mit sanften Küssen. Und seine Hand, zögernd, glitt unter ihr Hemd. Sie lächelte, hielt die Augen fest zu, und ihr Leib, schwer und füllig, streckte sich ihm entgegen. Mit den Fingerspitzen, ganz sacht erst, dann mit der flachen Hand strich er ihr über die Seiten, über die Mitte, abwärts und aufwärts. Sie warf den Kopf zurück und juchzte leise. Seine Hand wanderte zu den Tiefen der Hölle, zu den Höhen himmlischer Lust. Doch Meister Iste ließ sich nicht zwingen. Der müde Knecht lag unerwecklich. Er sank an ihre Brüste. Verzweifelt. Ihre Hand kam zu ihm, und sie war heiß. Er zog sie an sich, umfing sie mit beiden Armen und hielt sie fest. „Ach, Liebster...“ sie küßte ihn. „Es ist gut, Liebster ... Alles gut.“ Er sank, wie geschlagen, zurück aufs Kissen. Sie strich ihm durchs Haar. Sie legte sich ihm an die Seite, schmiegte ihren Kopf in seinen Arm. Und seine Hand, wie erschöpft, ruhte auf ihrem Rücken.
Schlummern.
Schlafen.
Welten träumen. Im Hexameter?
Unterm Fenster balgten sich die Patrioten.
In den Häusern feierte sich der neue Geist.
Ach, wenn er es noch dahin bringen könnte, ein Werk zu verfassen, daß sie ihn so recht gründlich verwünschten und ihm aller Orten nichts als Übles nachsagten, so an die fünfzig oder hundert Jahre lang. War doch im Haß wenigstens Charakter. Nein, sie mochten ihn nicht. Und er mochte sie nicht. Nie hatte er es ihnen zu Danke gemacht. Und wenn, nach seinem Tode, sein Walpurgissack sich einmal öffnen sollte, wenn alle darin eingeschlossenen Plagegeister, so wie sie ihn geplagt, dann auch zu ihrer Plage losgelassen würden, und sie zu jener Stelle kämen, wo selbst der Teufel Gnade und Erbarmen fand vor Gott, nein, das würden sie ihm nicht so bald vergeben.
Er lag und hielt sie im Arm. Ihre Atemzüge wurden tiefer. Die weichen Daunen deckten sie beide. Des Hexameters Maß, seine Finger wollten es nicht finden.
Schlummern.
Schlafen.
Überm dumpfen Lärm der Gasse?

Die Nacht war am Ende doch ruhig gewesen. (Die Scheiben waren heil geblieben.) Der Ostermorgen prangte im strahlendsten Himmelslicht. Das Läuten der Glocken, wie ganz anders heute, wiegte die Stadt. Er ließ wiederum Kräuter kommen. Kirchgänger war er nie gewesen. Im Arbeitszimmer lagen die alten Papiere ausgebreitet, die Briefe, Zeichnungen, das einst für die Freundin bestimmte Reisetagebuch, und so fuhr er, diktierend, durch die herrlichste Landschaft hinauf bis zum Brenner. „Es war ein Tag, den man jahrelang in der Erinnerung genießen kann.“ Der Satz aus den alten Aufzeichnungen, die er damals aus Rom abgeschickt hatte, mochte so stehenbleiben, bis auf ein Wörtchen vielleicht. „Bei Zirl fährt man ins Inntal herab. Die Lage ist unbeschreiblich schön, und der hohe Sonnenduft...“ Der junge Kräuter, seit einer Woche erst bei ihm im Schreibdienst, blickte, wie im Sonnenduft halb verträumt, zu ihm auf. „Der Postillon eilte mehr, als ich wünschte: er hatte noch keine Messe gehört...“ Allein die einstige Adressatin, wie eine Mitreisende ihn damals begleitend (daß er ihr gar beteuert hatte, in Innsbruck und der Gegend wollte er mit ihr gern einen Monat verleben), sie mußte wegredigiert werden. Für wen schrieb man? Er stand in seinem fünfundsechzigsten Lebensjahr. Nur die Jugend besaß die Varietät und Spezifika-tion, das Alter aber hatte die Genera, die Familias. „Es liegen Dörfer, Häuser, Häuschen, Hütten, alles weiß angestrichen, zwischen Feldern und Hecken auf den abhängenden hohen und breiten Flächen.“ Aus dem Büchlein würde ohnehin niemand viel lernen. Einige Wetterbeobachtungen aber konnte er sich nicht versagen zu übernehmen und, fast nebenbei, ein spätes Bekenntnis einzufügen. „Denn ich muß gestehen, daß die Reise eigentlich eine Flucht war, vor allen den Unbilden, die ich unter dem einundfünfzigsten Grade erlitten...“ Kräuter, abermals stockend, sah ihn an, halb fragend diesmal. Verständlich. Das alles lag für ihn in einer fernen Zeit, im vorigen Jahrhundert. „... daß ich die Hoffnung hatte, unter dem achtundvierzigsten ein wahres Gosen zu betreten.“ Der Gänsekiel kratzte weiter. „Allein ich fand mich getäuscht, wie ich früher hätte wissen sollen: denn nicht die Polhöhe allein...“ So ging es fort. Den ganzen Vormittag hindurch. Im engen Zimmer. Im Wust der alten Papiere. Und wieder läuteten die Glocken. Und niemand kam. - Nicht einmal Voigt ließ sich blicken, der Kollege und Freund seit den Ilmenauer Tagen, mit dem er immer einig gewesen war über die Tollheit der Epoche. Erblickte auch er jetzt als ein Bekehrter die Sonne des Friedens? - Wandel, er wußte es wohl, war das Gebot der Stunde. Und die Stunde, weiß Gott, währte schon ein halbes Jahr. Aber wer gebot ihm? Ein Mann wie Graf Colloredo? Im Oktober war es gewesen, da war der Herr Feldzeugmeister, noch im Dampf der gewonnenen Schlacht, mit vierundzwanzig Offizieren zur Einquartierung in sein Haus gekommen und hatte an seinem Rock den Orden erspäht. „Pfui Teufel, wie man so etwas tragen kann!“ Die Vergeßlichkeit des Siegers. Noch drei Jahre zuvor hatten des Herrn Feldzeugmeisters Majestät Ihre Höchsteigene Tochter dem Menschenschlächter ins Bett gelegt. Politik! Graf Metternich, der drei Tage später zu ihm ins Haus kam, hätte ihm das Kreuz sicher mit einem stillen Lächeln durchgehen lassen. Aber da hatte er den Orden bereits abgelegt und August geschenkt. Der hatte ihn freilich auch nicht tragen können, aber ihm war der Orden ebenso wert, wie er es ihm war. Die Ehrenlegion aus der Hand des Vaters, die er, der Vater, aus der Hand des Kaisers empfangen hatte, wenn auch auf dem Botenweg. - „Ich bin wohl, freien Gemüts...“ Die Fahrt ging weiter. „Der Tag ist so lang, das Nachdenken ungestört, und die herrlichsten Bilder der Umwelt verdrängen keineswegs den poetischen Sinn...“ Schon war Trient in Sicht. Aber für heute mochte es genug sein. Kräutern, er sah es, schmerzte die Hand. Es war inzwischen nach eins. Bis morgen also.
Er ging noch ein wenig ins Freie, in den Hausgarten. Gegen zwei Uhr, etwas später als zur gewohnten Stunde, kam der Professor - der immer Getreue, auch wenn er vor zwei Jahren im Streit oben aus der Mansardenwohnung ausgezogen war. Immer noch unverheiratet, war er heute ausdrücklich eingeladen. Zu Christianes Festtagsbraten. Die Düfte erfüllten bereits das halbe Vorderhaus. So begab man sich denn zu Tische. Unter allerlei Späßen und Scherzen. Zeitverloren, als gäbe es keine Welt da draußen und keine Stadt. Der Hausherr goutierte den leichten Elsässer. August erschien wie immer als letzter und bat um Entschuldigung. Man erhob die Gläser, wie an Stelle des Tischgebets. Riemer äugelte mit Uli. Wieder einmal. (Der ausdauernd schmachtende Professor feierte in ein paar Tagen seinen Vierzigsten!) Das dunkellockige Geschöpf schlug artig abweisend die Augen nieder. Der Hausherr war es zufrieden. Er mochte Ulinen, seinen allerhübschesten Sekretär, nur ungern verlieren. Nein, man wird nicht ärmer, wenn man sein Hauswesen zusammenzieht. Der Braten mundete. Ein Lob der Hausfrau, ein Lob der Köchin! Als Dessert gab es, ausnahmsweise, etwas Süßes, Karlsbader Strudl.

Wieder läuteten die Glocken. Wieder knallten die Pistolen, krachten die Gewehre, böllerten auf dem Exerzierplatz die Kanonen. Des Freudenfestes dritter Tag begann. Und wieder, wie schon am Samstag, verbreitete sich der Jubelsturm über Straßen und Plätze.

Das Hurrah und Juchhei drang auch heute bis unter seine Fenster, und er sah so manches vertraute Gesicht in dem bunten aufgeregten Treiben. Wen in der Stadt kannte er nicht nach mehr als achtunddreißig Jahren. Und nicht wenige, er bemerkte es wohl, blickten herauf, als wollten sie ihn an irgendeinem der Fenster stehen sehen. Er fühlte sich unbehaglich, wie ein Gefangener im eigenen Haus.

Er dachte an die Herzogin, an die Großfürstin. Erwarteten sie ihn? Auch wenn er schon seit Jahren nur noch mit dem Theater, der Universität, den Kunstsammlungen und Bibliotheken befaßt war, so gehörte er doch nominell nach wie vor dem Geheimen Conseil an. Aber was konnte es heute, an Ostern, zu beraten geben? Und was, so fragte er sich, würde geschehen, wenn er jetzt das Haus verließe? Würde die Menge, wenn er mit dem Wagen aus dem Tor herausführe, zurückweichen - wie vor einem ungeliebten hohen Herrn? Oder würde man ihn auffordern, sich zu zeigen, auszusteigen, vielleicht sogar zu ihnen zu sprechen? Am Ende würde man ihn gar nötigen, unter dem Geleit von Hoch- und Vivat-Rufen zu Fuß zum Schloß zu gehen.

Herr Doktor, das ist schön von Euch,
Daß Ihr uns heute nicht verschmäht ...

So hatte er einmal geschrieben, die Szene Vor dem Tor. Die Worte erschienen ihm jetzt wie Ironie. Aber warum graute ihm heute vor des Volks Gedränge? Weil er den Menschen nicht sagen konnte, was er in diesen Tagen dachte und empfand? Weil sie ihn nicht begreifen würden in ihrem losgelassenen Zustand? Oder weil er nicht mehr der Herr Doktor war?

Sartorius fiel ihm ein. Sartorius aus Göttingen, er hatte seinen Besuch schon für Samstag angekündigt. Er war einer jener vorzüglich unterrichteten und denkenden Männer, die zu wirken bestrebt waren. Im Moment allerdings hätte er nicht zu sagen gewußt, ob er den Politikprofessor zu dieser Stunde wirklich herbeiwünschte.

Hinter ihm ging die Tür. Es war Christiane. Er wußte, sie kam, weil sie sich sorgte, und wohl auch, weil sie den Lauf der Ereignisse zu verstehen suchte. „Nun ist der Kaiser Napoleon also aus der Welt?“ hatte sie ihn gefragt, als August vor einer halben Stunde die Nachricht von der Straße heraufgebracht hatte. - Das gute Kind! Napoleon aus der Welt, war das zu denken?

Sie trat zu ihm ans Fenster. „Das Juchheißa ist heute fast noch toller. Und das Schießen ist wirklich fürchterlich...“

Sie hakte sich bei ihm ein. Und er mußte sich eingestehen, daß es ihm gut tat, ihren Arm, ihre Hand zu spüren.

„Aber es ist nun mal die Freude“, sagte sie. „Und ich finde, du solltest sie ihnen nicht verargen. Die Schreckenszeit ist vorbei. Und ein jeder hat seinen Teil daran.“

Wie gescheit sie manchmal redete. - Aber hatte ein jeder nicht zu jeder Zeit seinen Teil daran? Er brauchte nur an Erfurt zu denken vor sechs Jahren. Wie hatten sie ihm damals alle zugejubelt, dem großen Kaiser der Franzosen! Zu Tausenden standen sie Kopf an Kopf auf dem Platz vor dem Palais, nur um ihn zu sehen. Und heute? Wußten sie wirklich, worüber sie sich freuten?

„Ja“, sagte er, „es ist die Freude. Aber wie kommst du auf den Gedanken, ich könnte sie ihnen verargen?“

„Ich spür’s“, sagte sie. „Du bist so still. Und ich weiß ja, du magst das Lärmen nicht ... Weil es dich nun mal stört.“

Er lächelte. „Du spürst’s. Und hast wie immer recht.“ Er sah sie an und sah zugleich Uli in der Tür stehen. „Mit den Gedanken bin ich eigentlich schon wieder unterwegs.“

Es wäre wohl nicht recht, dachte er, wenn er jetzt nach Kräuter schickte. Den ganzen Winter hindurch hatte ihm Caroline seine Kanzlei geführt, am Ende wurde sie ihm noch eifersüchtig auf den jungen Mann.

„Ich denke“, sagte er, „du kannst Ulinen heute morgen sicherlich entbehren.“ Und noch ehe Christiane lange überlegen konnte, ob sie ihr Mädchen bei irgend etwas brauchte, gab er ihr einen Kuß und ging aus dem Zimmer.

Caroline warf der Geheimen Rätin kurz einen entschuldigenden Blick zu, raffte ihre Röcke und eilte dem Meister nach ins Hinterhaus.

Im Arbeitszimmer auf dem großen Tisch lagen vom gestrigen Diktat noch alle Papiere verstreut. Er ordnete sie ein wenig und nahm dann das alte Reisetagebuch zur Hand. Und Caroline setzte sich wie immer an den kleinen Tisch vor dem Spiegel zwischen den beiden Fenstern.

Von draußen waren auch hier trotz der geschlossenen Fenster immer noch der Jubel und das Schießen zu hören.

Wie mochte es wohl auf den Straßen von Paris zugegangen sein beim Einzug der Majestäten? Er versuchte es sich vorzustellen: Zar Alexander, Kaiser Franz, König Friedrich Wilhelm, dahinter der ganze Schwanz von blitzenden Uniformen und stolzen Fürstlichkeiten. - Paris! Er war niemals dort gewesen. Vielleicht ein Versäumnis. Vor sechs Jahren hatte ihn Napoleon eingeladen, zu ihm in seine Hauptstadt zu kommen. In welcher Lage befände er sich jetzt, wenn er die Einladung angenommen hätte? (Eine Zeitlang hatte er den Schritt durchaus ernsthaft erwogen.) Wahrscheinlich befände er sich jetzt im Exil. Und Carl August könnte ihn besuchen kommen. Womöglich als sein Befreier bei ihm eintreten! Vorausgesetzt, er würde sich in dieser historischen Stunde seines einstigen Ministers und Jugendfreundes noch erinnert haben.

Er griff nach dem aufgeschlagenen Reisetagebuch. ,Nun bin ich völlige 50 Stunden am Leben und in steter Beschäftigung und Bewegung.‘ Trient, den 10. September. ,Wenn ich mich gehn ließe, schrieb ich dir auch noch, wie es mir ergangen ist ...‘ Er mußte wieder einmal redigieren. „Nachdem ich völlig funfzig Stunden am Leben und in steter Bewegung gewesen, kam ich gestern abend um acht Uhr hier an...“ Es schien ihm nicht recht gelungen. Aber er ließ es so stehen. Er mußte endlich fortkommen.

Caroline schrieb. - Sie schrieb eine Stunde, schrieb zwei Stunden, und hatte ihre liebe Not. Sie gab sich weiß Gott Mühe, so wie sie es immer tat, aber heute war es einfach ein Graus. Ständig mußte sie durchstreichen und die Sätze neu anfangen. Es war offensichtlich, er konnte sich nicht konzentrieren, ihm fehlte der Schwung. Wahrscheinlich das gräßliche Schießen draußen. An der schönen romantischen Landschaft konnte es ja wohl kaum liegen. „Der Mond ging auf und beleuchtete ungeheure Gegenstände.“ So eine Reise bei Nacht würde sie auch gern mal machen. Aber mit wem?

Mit dem Spiegel, vor dem sie saß, hatte es so seine eigene, etwas verwirrende Bewandtnis. Sie sah sich darin, wenn sie aufblickte, wie sie schrieb, das hieß: wie sie sich beim Schreiben für einen Moment unterbrach. Und wenn er gerade hinter ihr stand, was bei seinen Wanderungen unvermeidlich war, dann sah sie sich jedesmal mit ihm vereint. Wie auf einem Bild. Und manchmal (so schien es ihr) machte er sich einen Spaß daraus, ihr aus dem Spiegel heraus ins Gesicht zu sehen, mit einer Miene, so, als täte er es heimlich. Während es sich in Wahrheit eher umgekehrt verhielt. Und dann trat er jedesmal zur Seite heraus aus dem Bild, und sie fand sich, wie zur Strafe für ihre unziemlichen Gedanken, wieder allein in dem Spiegel. Sie wagte schon gar nicht mehr hineinzublicken. Eigentlich paßte dieses wundersame Ding überhaupt nicht hierher ins Arbeitszimmer (ebenso wie die weißen Krokusse), wo doch sonst alles so zweckmäßig war, einzig seiner Arbeit diente.

„Ein junger Mann, den ich um die Merkwürdigkeiten der Stadt fragte, zeigte mir ein Haus, das man des Teufels Haus nennt...“ Ach, du Schreck. Jetzt brachte er auch noch den Teufel ins Spiel. Aber mit dem hatte er es ja schon von Kindheit an. Und auf eine Art, daß man nie recht wußte, ob man sich wirklich vor dem Kerl fürchten sollte. „Das eigentlich Merkwürdige daran bemerkte der gute Mensch aber nicht, nämlich daß es das einzige Haus von gutem Geschmack ist, das ich in Trient gesehen habe...“

Caroline stockte die Feder. Ein Loblied auf den allzeitfertigen Zerstörer? Aber das geschmackvolle Haus wurde gottlob sogleich als das Werk eines guten Menschen erklärt. Dreimal „gut“ in einem Satz! Wenn das nicht überdeutlich war. Sie schrieb den Satz zu Ende, gespannt, was nun kommen würde. - Aber da sah sie, daß er die alten Papiere aus der Hand legte.

Wollte er schon Schluß machen? Es war erst um elf.

Zu ihrer Überraschung trat er neben ihr Schreibtischchen und öffnete beide Fensterflügel.

Von dem Lärmen und Schießen war jetzt kaum noch etwas zu hören.

„Welch herrliches Osterwetter!“ sagte er.

Seine Stimme klang auf einmal ganz anders. Woran dachte er? An früher? Zu Ostern hatte es draußen in den Wiesen am Gartenhaus immer lustige Feste gegeben. Besonders für die Kinder. Sie konnte sich noch erinnern: ans Haseneier-Suchen, an die Naschpyramiden mit Orangen und Würstchen, an den Eierbaum.

„Der Himmel strahlt und alles glänzt... Ich könnte mir denken, Carolinchen, du hättest jetzt viel mehr Lust, spazieren zu gehen, als hier in dem verstaubten Zimmer zu sitzen.“

Spazieren gehen? Himmel, auf welche Gedanken er kam!

„Aber wieso denn verstaubtes Zimmer?“ Sie versuchte, ganz vorsichtig, ein schelmisches Lächeln aufzusetzen. „Ich finde es in Italien herrlich und natürlich überaus lehrreich...“

„Lehrreich... So, so...“

Er erwiederte ihr Lächeln, auf eine Art, daß sie sich eigentümlich ertappt fühlte.

„Wirklich lehrreich, Carolinchen, ist immer nur die eigene Anschauung.“

Wie wahr, wie wahr! Aber welche Anschauung, zum Teufel, meinte er und welche Lehre? Die Leere war in ihrem Kopf, wenn er sie so ansah.

„Bei Gott“, sagte sie, „ich hätte schon Lust auf einen Spaziergang durch den Park... bei dem schönen Wetter...“ Den Weimarer Klatschbasen, die ohnehin schon lange über sie munkelten, würden die Augen aus dem Kopf fallen. „Aber vielleicht lieber am Nachmittag...“

Und lieber zu dritt, dachte sie. Die Geheime Rätin war schon eifersüchtig genug, daß er mit ihr so oft hier im Hinterzimmer allein war. - Oder hatte er den Schlüssel etwa schon in der Tasche für das Pförtchen in der Ackerwand?

„Am Nachmittag“, sagte er, „nach Tische... Du hast recht. Da wird dir der Professor sicherlich gern Gesellschaft leisten.“

Riemer? Das war nun wirklich gemein. - Der Professor war ja ein ganz netter Kerl. Und nur zu gern würde er sie auf Händen tragen, wenn sie ihn ließe. Aber sie wollte ihn nicht lassen. Und wenn sie wirklich mit ihm spazieren ginge, wovon würde er denn reden? Von ihm! Das wäre ihr ein schöner Ersatz.

„Gewiß“, sagte sie, „der Professor ist wahrlich ein lieber Mensch...“

„Nicht wahr?“ unterbrach er sie, ehe sie noch „aber“ sagen konnte. „Ich hoffe nur, du magst ihn nicht gar zu sehr. Am Ende entführt er dich mir doch noch. Er hat, wie du weißt, schon ein paarmal vom Heiraten gesprochen.“

Ihr stockte das Herz. Scherzte er oder war es ihm ernst, daß er sie nicht verlieren mochte?

„Es wird freilich Zeit“, sagte sie, „für den Professor. Nächste Woche wird er schon vierzig...“

Sie erschrak und hätte sich am liebsten auf den Mund geschlagen wegen dem „schon“. Denn beim Thema Alter war er empfindlich, dabei wirkte er, trotz seiner vierundsechzig, zehnmal jünger als der Herr Gymnasialprofessor.

„Und du“, hörte sie ihn sagen - und es klang, ihr fiel ein Stein vom Herzen, nicht gekränkt, „du, Carolinchen, bist schon vierundzwanzig. Denkst du denn gar nicht ans Heiraten?“

Jetzt wollte er es anscheinend ganz genau wissen. Na schön. Da half nur noch ein meisterliches Zitat.

„Der Gedanke des Ehestandes...“, sie mußte einen Moment überlegen, „hat für ein halbkluges Mädchen gewiß etwas Schreckhaftes.“ Schmunzelte er jetzt? Oder grübelte er?

„Brav, brav“, hörte sie ihn sagen. „Was halbkluge Mädchen sich aus Büchern so alles merken. Und wie denkt ein ganzkluges Mächen über den Ehestand?“

„Es denkt überhaupt nicht darüber. Denn wie soll es über etwas denken, wovon es keine Erfahrung hat?“

„Bravo, Caroline! Erst mit der Erfahrung beginnt das echte Nachdenken. Aber die Neugier... Lockte die Neugier nicht, wie sollte der Mensch je erfahren, wie schön sich die weltlichen Dinge gegeneinander verhalten?“

Wohl auch ein Zitat? - Sie konnte nun nicht länger mehr an sich halten, sie mußte einen Blick in den Spiegel wagen. Und sie sah, was sie geahnt hatte: Er hatte jetzt diesen seltsam feurigen Blick, wie... wie... Ihr wollte kein Vergleich einfallen. Eben wie er, dachte sie. Und es erschien ihr auf einmal ganz logisch: Er war jetzt wieder er selbst.

Sie empfand beinahme so etwas wie Stolz auf sich.

„Die weltlichen Dinge...“ Sie ergriff, mit überaus ernsthafter Miene, wieder die Feder. „Sollten wir da jetzt nicht den Spaziergang durch Trient fortsetzen?“

„Trient?“ Er schien einen Moment zu stutzen. „Der Spaziergang durch Trient, glaube ich, war zu Ende...“

„Aber die Reise geht doch weiter.“

Sie sah, wie er wieder nach den alten Reiseaufzeichnungen griff; aber dann trat er plötzlich neben sie und blickte, über die weißen Krokusse hinweg, erneut aus dem Fenster.

„Weißt du, Caroline, was damals an der Reise das Schönste war?“ Sie ahnte es. Aber es sollte wohl keine echte Frage sein. Und so überließ sie es ihm, es auszusprechen.

„Das Schönste damals war, daß ich inkognito reiste.“

Als Johann Philipp Möller, Kaufmann aus Leipzig. (Und das mit seinem Frankfurter Dialekt!) Er hatte ihr schon davon erzählt. Aber war das damals wirklich das Schönste für ihn gewesen? Manchmal dachte sie, daß es ihm die größte Lust gewesen sei, daß er allein reiste. - Aber vielleicht bedeutete das ja für ihn dasselbe wie inkognito.

„Nun haben wir also Frieden, Exzellenz!“

Voigts erste Worte, noch ehe er recht ins Zimmer getreten war. „Man soll ja den Tag nicht vor dem Abend loben... Und ich gestehe, Exzellenz, irgendwie fällt es schwer, sich vorzustellen, daß ein Mann wie Napoleon es hinnimmt, daß man ihn absetzt... Aber welche Mittel hätte er jetzt noch?“

Voigt schien ihm ein wenig außer Atem. Vom Treppensteigen. Er bat den Freund, sich doch zu setzen. Der Erstminister schritt immerhin auf die Einundsiebzig zu. Und über dreißig Jahre Regierungsgeschäfte gingen selbst an der robustesten Natur nicht spurlos vorüber.

„Sie bringen also Neuigkeiten, verehrter Freund...“

Voigt, inzwischen auf dem Sofa, unter dem Bild des Herzogs von Urbino, den Spazierstock wie gewöhnlich zwischen den Knien haltend, blickte ihn etwas erstaunt an. Offenbar fragte er sich, ob der Freund mit ihm scherze.

„Unsere Verbündeten, Exzellenz, sind in Paris!“

„Seit einer Woche, ich weiß...“

Voigt wirkte merklich erleichtert.

„Von hieraus betrachtet, erscheint die Lage noch ein wenig unübersichtlich. Die Nachrichten brauchen so ihre Zeit. Fest steht jedenfalls, Marschall Marmont hat kapituliert und gleich fünfzehntausend Soldaten mitgebracht. Bonapartes Brüder, Joseph und Jérome, haben sich nach Süden abgesetzt. Und der Kaiser...“ Voigt zögerte einen Moment, anscheinend im Zweifel über den vielleicht nicht mehr ganz erlaubten Titel. „Er ist in Fontainebleau. Mit fünfzigtausend Mann, heißt es...“

„Fünfzigtausend?“

„Der große Haufen ist übergelaufen. Fast sämtliche Marschälle und Generäle...“

Die Stunde des Umbruchs war von jeher die Stunde des Verrats. Bemerkenswerterweise vermied Voigt das Wort.

„Übergelaufen - zu wem? Zu den Verbündeten?“

„Das nun gerade nicht, Exzellenz. Es schiene mir von einem Franzosen etwas viel erwartet. Obgleich es am Ende wohl darauf hinausläuft. Nein, man ist übergelaufen zum Herzog von Benevent.“

„Zu Monsieur Talleyrand?“

„Er ist jetzt Chef der provisorischen Regierung, eingesetzt vom Senat...“

Talleyrand - er hatte ihn kennengelernt, vor sechs Jahren bei der Audienz in Erfurt. Ein Mann von altem Adel und damals noch die rechte Hand des Kaisers, später war er dann in Ungnade gefallen. Wenn er sich recht entsann, hinkte der Mann ein wenig.

„Ich glaube, er war einmal Bischof von Autun.“

Voigt lächelte.

„Exzellenz mögen die Pfaffen nicht...“

„Der Mensch, lieber Freund, vermag sich auch zu Höherem zu entwickeln. Monsieur de Talleyrand ist, wenn ich mich nicht täusche, ein Genie der Diplomatie.“

„Ganz ohne Zweifel. Er ist der Mann der Stunde. Wie es aussieht, hält er jetzt alle Fäden in der Hand. Es heißt, der Zar hätte in seinem Haus Quartier bezogen.“

Alexander - die neue Großmacht aus dem Osten. Das paßte. Er war dem Zaren mehrmals begegnet. Eine strahlende Erscheinung. Und ein ehrgeiziger Herrscher. Vor sechs Jahren hatte er von ihm den Sankt-Annen-Orden empfangen; einen Tag nachdem ihm Napoleon das Kreuz der Ehrenlegion verliehen hatte.

„Und das Volk der Franzosen? Die Bevölkerung von Paris, wie verhält sich die?“

„Die Stadt hat umgeflaggt. Alle Trikoloren, heißt es, sind verschwunden, in den Fenstern hängen jetzt weiße Fahnen.“

Die Farbe des Hauses Bourbon. War das das neue Frankreich? Vor einundzwanzig Jahren jubelte Paris, als der Kopf des Königs „nickte“.

„Glauben Sie mir, Exzellenz, es ist aus mit Napoleon. Und die Franzosen, jedenfalls die meisten, sind froh, daß sie ihn los sind. Sie waren seiner müde. Immer neue Aushebungen. Das schwindende Geld. Das Land stand vor dem wirtschaftlichen Ruin. Des Kaisers Reden verfingen nicht mehr. Und nicht zu vergessen: die Polizeiherrschaft. Mit Spitzeln, Agenten und Gendarmen läßt sich ein Land auf die Dauer nicht zusammenhalten...“

Die Stunde der Befreiung. Überall. Wie oft schlug sie den Völkern jetzt, alle zwanzig, dreißig Jahre?

„Und wir selbst? Wir, Exzellenz, haben es doch am eigenen Leibe erfahren, gerade hier in Weimar. Ihnen brauche ich die Zahlen nicht zu nennen. Unsere Schulden sind astronomisch. Allein das letzte halbe Jahr schätzungsweise zwei Millionen. Die Versorgung von neunhunderttausend Mann, von fünfhunderttausend Pferden. Wir sind ein ausgeblutetes Land. - Ich will nicht behaupten, daß ich den großen Mann nicht gelegentlich bewundert hätte. Gedächtnisschwund ist jetzt eine allgemein verbreitete Krankheit. Auf einmal will keiner ihm gehuldigt haben. Trotzdem sage ich, wir haben nicht auf den Knien vor ihm gelegen. Und wir haben auch nicht geschlafen. Gewiß, wir waren keine Schuster oder Perückenmacher, wir haben politische Verantwortung getragen, und man kann es, wenn man will, Erfüllungspolitik nennen, was wir betrieben haben. Aber vor der Gewalt hat man keine Wahl, und wo man keine Wahl hat, beginnt die Hoffnung. Und die Hoffnung wird allzu rasch zum Glauben, nämlich daß man doch irgendwie einer guten Sache dient. Schon nach Jena und Auerstedt glaubten wir, er würde nun Frieden machen. Den Rheinbund hielten wir für ein ausbaufähiges Schutzdach für die kleineren deutschen Staaten. Einheit und Freiheit schienen uns nach dem Zusammenbruch des Reiches nicht das Wichtigste zu sein, sehr wohl aber die Erhaltung der deutschen Kultur. Nur durch unsere Literatur blieben wir noch Deutsche. Und gerade Weimar, glaubten wir, würde Napoleon unter seine schützenden Flügel nehmen. Sie merken, Exzellenz, ich zitiere mich ein wenig selbst. Ich habe also keineswegs vergessen. Aber wir haben uns Illusionen gemacht. Die mächtigen Flügel waren so schützend, daß man uns Monsieur de Saint-Aignan als Oberaufpasser vor die Nase setzte. Wir wissen es doch selbst am besten, Exzellenz: alles wurde überwacht. Unsere Korrespondenzen, das Hoftheater, die Presse. Jedes halböffentlich geäußerte Wort wurde sofort nach Erfurt gemeldet an Monsieur Devismes. Hier in Weimar und Jena war der deutsche Geist versammelt. Und mitunter fühlten wir uns beinahe geschmeichelt, wie sehr man uns beachtete...“

Er begriff nicht ganz, weshalb ihm Voigt das jetzt alles erzählte. Baron de Saint-Aignan war ein Mann von Kultur. Wie oft hatte er dort auf dem Sofa gesessen, wo jetzt Voigt saß. Doch niemals wurden politische Gespräche geführt. Es ging um Kunst und Wissenschaften, die die Menschen vereinen und nicht trennen.

„Wir galten als gefährliche Leute, Exzellenz. Alle politischen und literarischen Texte, die in Weimar oder Gotha gedruckt wurden, mußten von Saint-Aignan nach Paris geschickt werden an den Herrn Außenminister. Ich erinnere mich sehr wohl, Exzellenz, nicht selten fanden wir es amüsant. Und ich gab mir ja weiß Gott Mühe, daß wir immer als ein treuer Verbündeter dastanden. Nein, ich wiederhole es, wir lagen nicht auf den Knien, und wir haben auch nicht geschlafen. Gerade Ihr Name, Exzellenz, hatte Gewicht und Wirkung, nämlich daß man uns mit Respekt behandelte. Trotzdem haben wir uns getäuscht, in uns und in Napoleon. Und wir haben allzu leicht weggesehen von dem allgemeinen Unrecht, von der Gewalt. Am Ende, Exzellenz, kann man es auf einen einfachen Satz bringen: An den Händen des großen Welterneuerers klebt zu viel Blut.“

Er hatte Voigt mit einiger Besorgnis zugehört. Es fiel ihm jedoch schwer, ihm zu widersprechen, ja, es war ihm unmöglich. Vor ihm saß nicht nur ein alter Freund, sondern auch ein Vater, der seinen einzigen Sohn verloren hatte: in jenen dramatischen Tagen vor einem Jahr, als die Franzosen die von preußischen Truppen bereits besetzte Stadt nach einer Woche wieder zurückeroberten und der junge Regierungsrat von Voigt und der Kammerherr von Spiegel nach Erfurt auf die Festung verbracht wurden, wegen eines abgefangenen, angeblich verräterischen Briefes. Sie sollten erschossen werden. Und nur die Fürsprache der Herzogin bei Napoleon persönlich hatte bewirkt, daß die beiden wieder freikamen. Der junge Voigt kehrte todkrank zurück und starb kurz darauf. - Er selbst befand sich zu der Zeit in Teplitz und wußte wochenlang nicht, was er dem Freund Tröstendes schreiben sollte. Um so dankbarer war er Voigt, als er ihn im Dezember unterstützte in seinem Bemühen, August vom Kriegsdienst freigestellt zu bekommen.

„Sie haben zweifellos recht, lieber Freund. Und Sie haben es eingangs bereits völlig klar ausgesprochen: Wir haben nun endlich Frieden.“

Er zögerte einen Moment, aber das Wort Freiheit wollte ihm nicht über die Lippen kommen.

„Es war gewiß eine schwierige Zeit. Und wir wissen es ja beide: Wir lebten in einer zerrissenen Welt, in der man oft genug kaum wußte, mit wem man noch zusammenhing. Feiern wir denn also das Fest des Wiederzusammenfindens der Deutschen und einer endlich wieder vergönnten freien Mitteilung...“

Er erwog, den Gedanken noch ein wenig fortzuführen, denn ein Blick in die Zukunft warf so manche offene Frage auf; aber er bemerkte Voigts etwas verwunderte Miene. Was um Himmels willen erwartete der Freund? Daß er ihn freisprach? Irrend lernt man. Und über den Gang der Geschäfte mußte zwischen ihnen doch nichts mehr gesagt werden. Sie kannten sich seit über dreißig Jahren.

Er stand auf.

„Das schöne Osterwetter, scheint es, ist vorüber...“

Draußen ging ein heftiger Hagelschauer auf den leergefegten Platz nieder.

Voigt, sich auf seinen Stock stützend, kam zu ihm ans Fenster. „Der April hat nun mal seine Launen, Exzellenz.“

„Und doch ist kein Jahr wie das andere... Manchmal, lieber Freund, denke ich, Sie könnten es bedauern, daß ich Sie in die Politik geholt habe...“

„Bedauern? Nicht eine Stunde, Exzellenz! Im übrigen war es der Fürst, der mich von Allstedt wegholte...“

„Aber ich war es, der Ihnen dann die Ämter aufbürdete...“ Erst holte er ihn in die Bergbau-, dann in die Landvermessungskommission. Als hätte Voigt in der Justizbehörde und als Geheimer Archivarius nicht schon genug zu tun gehabt. Und dann hatte er ihn sitzenlassen mit all den Ämtern. Und später hatte er sich dafür verwendet, daß Voigt Sitz und Stimme im Conseil erhielt und schließlich Erster Minister wurde.

„Und Sie, Exzellenz, bedauern Sie es, daß Sie mich in die Politik geholt haben?“

„Ich hoffe, das soll keine Frage sein. Ich hätte Sie heute nicht zum Freund. Und ich denke, Sie wissen, daß Sie am Ende der einzige sind, der mir in der Amtsluft zum Vertrauten wurde...“

Auch wenn es dann Jahre gab, in denen sie kaum noch ein politisches Gespräch geführt hatten.

„Und ich, Exzellenz, hätte ich in der Justizkanzlei wohl je einen Mann wie Sie getroffen?“

„So ist die Politik letztlich doch unser Schicksal.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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