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Konfrontation und Resümee - Über den epischen Umgang mit historischen Figuren

Im Gespräch mit dem Autor Bernd Schremmer

 

Sie haben einen Napoleon-Roman geschrieben, danach eine Metternich-Biographie (die ich für Ihr bisher bestes Buch halte), jetzt liegt fertig ein Goethe-Roman vor. Drei markante Figuren einer Epoche. - Warum gerade aus dieser Epoche?

Das ergab sich. Und zwar aus den Figuren. Es begann ja nicht mit einer bewußten Entscheidung für diese geschichtliche Epoche, sondern mit einer Idee zu Napoleon, der mir geeignet erschien, etwas darzustellen, was mir damals auf der Seele lag. Das war 1979. Übrigens fast auf den Tag genau, als ich aus dem Lehrerberuf ausschied. Da hatte ich diese Stückidee. Der Roman kam ja erst später. Es war die Idee zu einem Zwei-Personen-Stück, in dem nur einer redet, der abgedankte, verbannte Herrscher, und der redet sich, sich selbst darstellend, um Kopf und Kragen, weil der andere, eine Art Gespenst aus der Vergangenheit, schweigt, weil der sich weigert, den Mann, dem er früher treu ergeben war und dem er sein Leben geopfert hat, freizusprechen. Das Stück, das ich im Dezember 79 schrieb, hieß dann Napoleon oder Das Schweigen des Soldaten. Wir lebten ja damals alle mehr oder weniger in einer Monolog- und Schweigegesellschaft. Im übrigen war 1979 das Jahr, in dem der Schriftstellerverband der DDR neun seiner Mitglieder ausschloß, die nicht geschwiegen hatten. Ich weiß heute nicht mehr, ob ich mir damals all dieser Katalysatoren völlig bewußt war; man begreift ja so etwas immer erst ganz im Rückblick. Auf jeden Fall reizte mich diese Figurenkonstellation, diese Konfrontation. Außerdem war es, nach den gerade erst veröffentlichten Erzählungen, der große Gegenstand. Und an diesen historischen Stoffen begann ich mich dann auch tatsächlich allmählich freizuschreiben vom Alltäglich-Gegenwärtigen, das zwar ein weites Feld, aber doch ein ziemlich kontrolliertes Terrain war.

Sie sind dann bei dieser Epoche geblieben. Warum?

Zunächst einmal nicht. Als nächstes, ich glaube, das war 1981/82, schrieb ich den „Luther“. Wiederum ein Stück fürs Theater, das mit dem bekannten Ausspruch zu Worms endete: Ich kann nicht anders, hier stehe ich. Gott helfe mir! Amen. Das Stück wurde zwar gedruckt, aber nicht aufgeführt. Wahrscheinlich war das auch ein Grund dafür, daß ich dann noch einmal zu Napoleon zurückgekehrt bin und mich nun, für den Roman, gründlicher mit dessen Biographie befaßt habe. Und da begann die Epoche, also die Zeit zwischen 1789 und 1815, für mich wirklich literarisch interessant zu werden. Obwohl ich natürlich schon vorher eine Menge darüber wußte. Man kommt ja nicht von ungefähr zu so einem Stoff. Aber mir erschien diese Zeit auf einmal sehr gegenwärtig. Eine Epoche mit ungeheuren Begebenheiten und ungeheuren Widersprüchen, mit einerseits hohen Zielen, ja Idealen und andererseits fürchterlichen Kriegen, Verbrechen und menschlichem Versagen. An Napoleon schieden sich, zu seiner Zeit und auch danach, die Geister, und nicht eben die geringsten. Die Welt war gespalten, und alles war zwiespältig. Es war eine Zeit voll äußerer und innerer Konflikte, die sich, wenn auch modifiziert, bis heute immer noch wiederholen. Es ist ja weiß Gott nicht meine Erkenntnis, daß mit der Französischen Revolution und dem Auftreten Napoleons die Neuzeit beginnt. Schon Nietzsche sagte, das nächste Jahrhundert werde in den Fußtapfen Napoleons zu finden sein, des ersten und vorwegnehmendsten Menschen neuerer Zeit. Im übrigen, als ich den Roman schrieb, standen die sowjetischen Truppen in Afghanistan. Wie hätte ich mich anders damit auseinandersetzen sollen als historisch?

Und dann kam „Metternich“.

Ja, gleich im Anschluß daran.

Im „Metternich“ gefielen mir besonders jene Passagen, die eine artifizielle Doppelbödigkeit zeigten. Sozusagen zwischen den Zeilen las der mit DDR-Erfahrung behaftete und belastete Leser das Problem der Zensur. - Was reizte Sie damals mehr, die Person Metternich oder die Problematik Metternich?

Zunächst die Problematik. Ich kannte den Mann ja bereits oberflächlich, als ein Gegenspieler Napoleons. Und anfangs sollte auch der Metternich ein Roman werden. Das war ungefähr 1986. Ich hatte wiederum eine Idee für eine Konfrontation. Eine Idee, die mir heute im Rückblick beinahe gespenstisch erscheint. Ein Wiener Journalist und Demokrat sollte den durch die 48er Revolution gestürzten, vertriebenen und dann wieder nach Wien zurückgekehrten alten Metternich interviewen, um ihn zu Bekenntnissen und Geständnissen seines Versagens und seiner Schuld zu bringen. Heute bedauere ich fast, daß ich den Roman aufgegeben habe; aber er geriet mir damals zu langatmig, zu überladen mit personellen und historischen Vorgeschichten. Und so habe ich mich, auch von dem inzwischen erarbeiteten Stoff gereizt, für die Biographie entschieden. Und dabei wurde nun zunehmend die Person, der Mensch Metternich, interessant. Das Bild wurde differenzierter. Eine Biographie ist ja keine Anklageschrift. Und natürlich geriet ich nun auch wieder in die Epoche nach 1789, mit der alles anfing, auch und gerade für Metternich. Die Passagen, auf die du abhebst, liegen dann mehr in seiner zweiten Lebenshälfte, nach dem Wiener Kongreß und den Karlsbader Beschlüssen, die in der Tat ein Klima für das künstlerische, intellektuelle und politische Deutschland schufen, das dem in der DDR ziemlich genau entsprach. Was mich um so mehr reizte, als ja die marxistische Geschichtsschreibung Metternich immer als finsteren Reaktionär apostrophierte. Ich sah darin ein gewissermaßen unfreiwilliges Selbsturteil über die Verhältnisse im eigenen Lande. Im Grunde, etwas zugespitzt ausgedrückt, habe ich das Buch, das leider erst im Sommer 1989 fertig wurde, wegen der zwei, drei Seiten im letzten Kapitel geschrieben, die sich in der Tat als eine Art DDR-Resümee und als ein Plädoyer für die Demokratie lesen sollten. Als nächstes wollte ich dann eigentlich ein Buch über Disraeli oder Gladstone schreiben, um nach England zu gelangen und zur nächsten Epoche im 19. Jahrhundert. - Eine Zeitlang dachte ich auch an den alten Grillparzer.

Der Weg zu Goethe verlief also nicht nach Programm?

Nein, eigentlich nicht. Im Grunde hatte ich überhaupt kein Programm. Ein Stoff zog den anderen nach sich. Aber wie schon gesagt, bei mir beginnt immer alles mit einem Einfall. Einem Einfall von einer bestimmten Figurenkonstellation, aus der sich literarisch etwas gewinnen läßt, die bei mir etwas in Gang setzt. Aber zu den oben Genannten hatte ich keinen Einfall. Einfälle gehorchen ja keinem Programm. Und die Metternich-Biographie war ja für mich, was das Genre betrifft, eine Ausnahme. Von vornherein.

Und durch welchen Einfall sind Sie dann auf Goethe gekommen?

Zunächst einmal, nach dem „Metternich“, hatte ich überhaupt keinen Einfall. Denn da kam die Wende. Dann habe ich ein altes Theaterstück überarbeitet, danach einen Gegenwartsroman geschrieben, und dann ... Das war 1996, buchstäblich über Nacht kam mir Goethe in den Sinn. Goethe, die Französische Revolution und Herzog Carl August.

Wiederum eine Figurenkonstellation.

Ja. Goethe, Napoleon und der Herzog. Darin schienen mir gewisse Möglichkeiten zu liegen.

Und Sie befanden sich wieder in der „alten“ Epoche.

Wahrscheinlich weil ich irgendwie immer noch in ihr drinsteckte. Vielleicht auch, weil die Wende 89, die ja eine europäische war, ausgerechnet in dieses Jahr des 200. Jubiläums der Französischen Revolution fiel. Nein, im Ernst, diese historische Epoche nach 1789 erscheint mir nach wie vor als die aufregendste. Weil man schon in ihr fast alles findet, was wir heute auch haben. Und weil man an ihr zeigen kann, was seitdem von vielen Köpfen immer wieder gedacht und gewollt wurde, was wir aber bis heute nicht geschafft haben: eine - etwas vereinfacht ausgedrückt - bessere Welt. So kam ich, glaube ich, auf Goethe, der ja Staatsmann und Künstler war und in dessen Leben es, politisch betrachtet, zwei Zäsuren gab: das Jahr 1789 und das Jahr 1813/14. Dazwischen lag, was wir heute die Zeit der Weimarer Klassik nennen. Eine für mich hochinteressante Tatsache. Diese Weimarer Klassik war ja von ungeheuren philosophischen und künstlerisch gestalteten Visionen getragen. Im übrigen war Goethe ein eminent politisch denkender und handelnder Mann, auch wenn ihm immer wieder das Gegenteil nachgesagt wird, nur weil er sich nach seiner Italienreise vom politischen Tagesgeschäft zurückgezogen hat. Aber ich frage dich, welcher deutsche Dichter hat sich denn elf Jahre seines Lebens nicht nur ein, sondern gleich mehrere Ministerämter aufgehalst und seine poetische Produktion völlig hintenangestellt? Er hat es sich nicht eben leicht gemacht und ja auch später noch, auf seine konservativ voranschreitende Art, so etwas wie einen dritten Weg praktiziert, die Balance zwischen Altem und Neuem. Er bewunderte Napoleon, den welterschütternden Tatmenschen, und er hielt seinem Fürsten Carl August die Treue, der Napoleon besiegen half. Im Grunde ist bei ihm alles im Widerspruch und im Einklang. Und immerhin, Carl August, zu einem großen Teil ja Goethes Produkt, war der erste deutsche Fürst, der in seinem Herzogtum die Konstitu-tion einführte und auch durchhielt. Jena mit den Burschenschaften und Eisenach mit dem Wartburgfest lagen schließlich in Sachsen-Weimar. Erscheinungen, von denen Goethe im übrigen nicht sehr viel hielt.

Gegenwart und Vergangenheit, Vergangenheit und Gegenwart, Sie haben das Verhältnis bereits angesprochen; aber wie stellten sich diese Pole in Ihrem Arbeitsprozeß dar?

Ausgangspunkt war immer die Gegenwart. Denn wie gesagt, es begann immer mit einem Einfall. Und Einfälle produziert der Kopf, auf wahrscheinlich nie ganz zu klärende Weise, aus seiner jeweils gegenwärtigen Befindlichkeit. Da spielt ja so vieles mit, worüber wir uns, gottlob, im Moment gar nicht bewußt sind. Außerdem schreibe ich nicht als Historiker. Obwohl auch Historiker gelegentlich ihrem Ort und ihrer Zeit verpflichtet sein sollen. Nein, der Ausgangspunkt war für mich immer das Hier und Heute - und natürlich ich selbst. Die Vergangenheit war der Stoff, das Material, um tiefer zu loten. Und um in Schwung zu kommen. Oder wie Goethe sagte: „Das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, den sie erregt.“ Außerdem wußte natürlich auch er schon: „Je tiefer man ernstlich eindringt, desto schwierigere Probleme tun sich hervor.“ Und das ist ja das Reizvolle, je genauer man hineinblickt in die Vergangenheit, desto weniger eindeutig ist alles. Das ist regelrecht ein Spannungselement. Im Glücksfall dann auch für den Leser. Es besteht ja, wenn man von einer Idee ausgeht, auch von einer nur literarischen, immer eine große Gefahr. Daß man sich die Geschichte zurechtschreibt für die Gegenwart. Ich habe das immer zu vermeiden versucht. Und das ist am Ende der eigentliche Gewinn, man kommt aus der Vergangenheit immer ein Stück geläutert zurück. Und es geht ja nicht ums Rechthaben gegenüber der jeweiligen Figur. Das wäre völlig unliterarisch. Es geht ums Darstellen, vor allem der Widersprüche. Was nicht Sympathie ausschließt. Im Gegenteil. Man fühlt um so mehr mit, je mehr sich eine Figur mit ihren inneren Widersprüchen herumquält. Wenn du so willst, mit den berühmten zwei Seelen. Und auch jede Sache existiert letztlich nur im Widerspruch, das eine nie ohne sein Gegenteil.

Sie sprachen von den beiden Zäsuren in Goethes Leben, warum haben Sie gerade die zweite gewählt, das Jahr 1814?

Weil sie für mich die interessantere war. Die Zeit der napoleonischen Kriege, der geteilten Welt und vor allem der Fremdherrschaft in Deutschland war vorüber, und Goethe, als Bewunderer Napoleons, steckte in den größten Schwierigkeiten. Außerdem, Carl August, sein Fürst und Mäzen, ist abwesend, in Holland, dann in Paris. Die Frage, die damals nicht wenige bewegte, war: Vollzieht Goethe nun die Wende mit? Und wenn ja, wie? Er ist immerhin ein Mann mit Grundsätzen. Und siehe da, gut einen Monat nach Napoleons Abdankung schreibt er ein Festspiel zu Ehren der Sieger, Des Epimenides Erwachen. Ein Auftragswerk, würden wir heute sagen. Eine sehr verschlüsselte, allegorische Epochen-Rückschau. Bei genauerem Hinsehen ein ziemlich vertracktes Werk, mit dem dann bei seiner etwas verspäteten Aufführung in Berlin auch kaum jemand etwas anzufangen wußte. Im Grunde ist er ja bis zu seinem Lebensende ein Verehrer Napoleons geblieben, auch wenn er, ich glaube 1830, sagte, mit Blick auf Sankt Helena: „Wenn man bedenkt, daß ein solches Ende einen Mann traf, der das Leben und Glück von Millionen mit Füßen getreten hatte, so ist das Schicksal, das ihm widerfuhr, immer noch sehr milde.“

Es gibt im Roman auch noch eine Nebengeschichte, die sich als Liebesgeschichte erweist. Was ist daran Wahrheit, was Dichtung?

Alles daran ist Wahrheit, und fast alles Dichtung. Das ist ja kein Gegensatz. Die Fakten sind überliefert, vor allem durch Riemer und in Goethes Tagebüchern. Caroline Ulrich war 1814 das sechste Jahr in Goethes Haus, als Gesellschafterin von Christiane, und da Goethe seit Herbst 1813 völlig ohne Diener und Sekretär war, war sie für ihn auch „der hübscheste Sekretär“. Ergebnis: Christiane wurde eifersüchtig, und es hat ein paarmal Krach und Tränen gegeben. Wie gesagt, das ist überliefert. Leider nicht Carolines Tagebuch. Es gibt also eine Menge Lücken, mit anderen Worten für einen Romanautor Spielraum. Carolines Gedanken und ihre Unterhaltungen mit Goethe sind natürlich erfunden; das gilt im übrigen auch für die anderen Gespräche, mit Sohn August, mit Schopenhauer, mit dem Minister Voigt usw. Das ist ja bei jedem historischen Roman so. Trotzdem kann es, was die Wahrheit betrifft, nicht anders gewesen sein, als ich es zu erzählen versucht habe. Worauf es mir ankam, war, dieses Mädchen-, dieses Frauenschicksal in Goethes Schatten zu zeigen und dann, was seltsamerweise kaum bekannt ist, Carolines Bedeutung für die Entstehung des West-östlichen Divan. Der wird immer nur auf die Begegnung mit Marianne Willemer zurückgeführt, was aber so nicht ganz stimmt. Im übrigen lockert diese Liebesgeschichte die sonst möglicherweise allzu politische Haupthandlung auf. Der Dichter betrachtet sich, wie Goethe sagt, als ein Reisender. „Damit aber alles was ein Reisender zurückbringt den Seinigen schneller behage, übernimmt er die Rolle des Handelsmannes, der seine Waren gefällig auslegt und sie auf mancherlei Weise angenehm zu machen sucht...“

Das Gespräch führte Helmut Hirsch


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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