Eine Annotation von Bernd Heimberger


Gaier, Ulrich (Hrsg.):

Johann Wolfgang Goethe. Faust-Dichtungen

Philipp Reclam jun., Stuttgart 1999, 3 Bde. in Kassette

 

Und gib uns unseren Goethe heute! Wer sagt das? Sich das? Täglich? Wissen Sie, wieviel Kilo Goethe Sie im Hause haben? Wenn überhaupt? Welche Haushalte in Deutschland halten sich Goethe? Die hängengebliebenen, leicht zerfledderten Reclam-Nummern ausgenommen. Mein Gott, Goethe! Kommt Goethe, und bleibt Goethe in der Hausbibliothek, so meist in Gestalt von Reclam. Praktisch und preiswert. Volksnah und somit volkseigen? Kein Kommentar!

Selbstverständlich, daß Reclam mit von der Partie auf der Geburtstagsparty des National-Autors Numero 1 ist. Selbstverständlich mit dem RUB-Spitzentitel Faust. Natürlich nicht pur! Der Heimat-Verwertungs-Verlag läßt sich nicht lumpen. In einen Schuber gesteckt, werden dem geneigten Publikum Faust-Dichtungen in drei Bänden zugeschoben. Mit den Faust-Dichtungen sind keine Texte gemeint, die Goethe vorausgingen und ihm nachkamen. Abgesehen vom ersten und schmalsten Band der Ausgabe, der tatsächlich für die beiden Teile des „Faust“ und Metamorphosen reserviert ist, gibt’s auf über zweitausend Seiten „Kommentar I und II“. Gelehrtes also zum Glanzstück deutscher Dichtung und Bildung. Herausgabe und Kommentar sind die Glanzleistung des in Konstanz lehrenden Literaturwissenschaftlers Ulrich Gaier. Hunderte Vorredner, Zehntausende Seiten hinderten den Germanisten nicht, öffentlich auch seins zur Sache zu sagen.

Zwei Hüte ab vor dem Mann! Mit dem kolossalen Kommentar hat er sich ein Entree verschafft bei gelehrigen Gymnasiasten und Studenten des nächsten Jahrtausends. Der Kommentar riegelt den Kosmos Goethe nicht ab. Goethe und seine Faust-Dichtungen sieht Gaier im Kontext der Dichtungen und des Denkens der Welt, die Goethe zugänglich waren und die er ermöglichte. Goethe wird’s nicht genieren, daß die Nachwelt aus seinem „Faust“ mehr herausholte, als er hineingab.

Ob’s ihn vergnügt und ihm genügt, daß „Faust“ zur Studierstube geworden ist? Goethe will gelesen werden. Und nicht mal als Reclam, dreibändig, im Rücken stehen. - „Ach Schelm, so neck du mich!“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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