Eine Rezension von Henry Jonas


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Ein Schauspieler dankt ab

 

Kurt Böwe/Hans-Dieter Schütt: Der Unfugladen oder Endlich Schluß mit dem Theater? Vorstellungen und Personalien.
Mit einem Gespräch von Günter Gaus.

Das Neue Berlin, Berlin 1999, 192 S.

 

 

Vor vier Jahren hat Schütt die Biographie Böwes, eines der bedeutendsten und populärsten Theater-, Film- und Fernsehschauspieler der DDR, verfaßt. Kurt Böwe - Der lange kurze Atem ist ein dickes Buch, fast 400 Seiten. Es war auf Grund von ausführlichen Gesprächen mit Böwe, seinen Familienangehörigen und Arbeitspartnern aus vier Jahrzehnten und unter Hinzuziehung von Tagebuchnotizen, Briefen und Zeitdokumenten entstanden. Es war aus vielen Einzelteilen raffiniert komponiert und trotzdem wie aus einem Guß - ein wunderbares, ein philosophisches Buch, das der Rezensent damals überaus gelobt und warm empfohlen hat („Berliner LeseZeichen“ Nr. 5/1996, S. 82). Jetzt wird ein Abgesang hinterhergeschoben, als Autoren werden diesmal Böwe (großgedruckt) und Schütt (kleingedruckt) genannt, wieder geht es um viele Einzelteile, die jeweils durchaus interessante Aspekte enthalten, aber sie bleiben eklektisch, eine organische Einheit stellt sich diesmal nicht her, und Zweck und Ziel der Publikation erhellen sich erst ganz am Ende. Vorwort Schütt, Vorwort Böwe, Nachwort Schütt scheinen mir entbehrlich. Kern ist ein 50seitiges Gespräch, das wohl Schütt mit Böwe geführt hat, wenn’s denn kein Selbstgespräch war (ausgesprochen wird das nicht). Da wird im ersten Drittel auf Böwes unvollendete Dissertation aus dem Jahre 1960 über die gesellschaftliche Stellung des deutschen Berufsschauspielers von 1600 bis 1795 Bezug genommen, und es wird ein bißchen über den Schauspielerberuf als solchen philosophiert. Dann folgen biographische Details, die dem Leser des „Langen kurzen Atems“ bereits bekannt sind, und im letzten Drittel werden Erinnerungen an die verstorbenen Schauspielerkollegen Dieter Franke und Rolf Ludwig sowie an Fred Düren und den Regisseur Adolf Dresen aufgefrischt, und es wird exemplarisch geschildert, wie Böwe den Zugang zur Rolle des Michael Kohlhaas fand. Es folgen dann gesondert noch eine Art Nachrufe (Böwes) für Heiner Müller und Klaus Piontek.

Das ist im Detail durchaus lesenswert, es ergänzt, wiederholt, setzt andere Akzente, ist aber nicht eigentlich das, was man in einem neuen Buch als neuen Ansatz erwartet hätte. Als Böwe sich der Bühne zuwandte zum Beispiel, da war Ostberlin eines der europäischen Zentren der Theaterkunst. Hier wirkten Brecht und Felsenstein, Wolfgang Langhoff und die Berghaus, Kilger und Appen, Heinz und Paryla, Herz und Friedrich, Eisler und Dessau, Konwitschny und Suitner, Schreier und Adam. Wir begeisterten uns an „Mutter Courage“, „Kreidekreis“ und „Arturo Ui“, an „Zauberflöte“ und „Schlauem Füchslein“, wir waren erschüttert von „Julius Fucik“ und „Sturm“, beeindruckt von „Auferstehung“ und „Sommergäste“, von „Egmont“ und „Don Carlos“, wir staunten über neue Lesearten von „Lear“ und „Minna von Barnhelm“. Ob solche Inszenierungen, die zum Bild der Zeit gehörten, maßstabgebend auch auf Böwe wirkten oder seine Polemik herausgefordert haben - man hätte es gern gewußt. Die Antwort bleibt auch diesmal offen. Oder auch: Was empfindet ein Darsteller des vielgepriesenen und hochrenommierten Deutschen Theaters, der heute zunehmend vor ein (halb)leeres Haus tritt, und wo sieht er die Gründe? Jahrzehnte hat er hier mit „seinem“ Publikum im innigsten Dialog gestanden, und Eintrittskarten galten als Mangelware - jetzt bleiben viele Parkettsessel leer. Hat das mit der andersgearteten Gesellschaft zu tun oder reagiert das Theater nur ungenügend auf die neuen Fragen der Zeit? Auch Fernsehen, bei Böwe in letzter Zeit durch seinen Kommissar Grothe breiteren Raum einnehmend, seine Eigenart und seine Bedeutung für die Popularität des Schauspielers kommen nicht zur Sprache.

Dem großen Gespräch folgen einige Beobachtungen (vermutlich Böwes) zum zeitgenössischen Theater, Rezensionen nämlich von Inszenierungen tonangebender zeitgenössischer Regisseure (Schleef, Peymann, Marthaler, Wilson, Tabori) sowie Gespräche (vermutlich Schütts) mit Theatermenschen wie Andrea Breth und Johanna Schall, wie Wildgruber, Wuttke und Geschonneck. Auch das ist im einzelnen durchaus interessant, der Bezug zu Böwe besteht aber wohl einzig darin, daß er die Sinnsuche für die Tätigkeit im „Unfugladen“, als den er das Theater philosophisch apostrophiert, bei anderen zu ermitteln sucht. Ihm selbst ist sie wohl abhanden gekommen, die Zweifel fressen ihn inzwischen auf.

Das aber wird so recht erst im letzten Teil des Buches deutlich, das einige Beiträge Böwes zu Fontane enthält (dem er resignierend im Alter sehr nahegerückt ist, dem er rund fünfzig öffentliche Lesungen und die Produktion einer CD gewidmet hat), ein Gespräch mit Günter Gaus (1997 im ORB gesendet) und einen kurzen Essay über Tankred Dorsts „Herrn Paul“ (den er in den Kammerspielen des Deutschen Theaters über hundertmal gespielt hat). Herr Paul ist ein weiser und wüster Verweigerer, der sich gegen die eilige Welt stemmt, gegen das Allmachtsdenken der neuen Zeitbeherrscher und deren Anmaßung, man könne alles erreichen und jeden herumkriegen. In dieser Figur findet sich Böwe heute wohl am ehesten wieder.

Wenn Böwe heute, wie er sagt, kaum einen Sinn erkennen kann, der das Leben lebenswert macht, so ist das nicht pure DDR-Nostalgie. Aber er war gewohnt, einer (sozialen) Idee zu folgen, in einer (der Allgemeinheit dienenden) Sache aufzugehen. Diese gewachsene Lebenswelt wurde ihm zerstört, und er leidet am Verlust. Geblieben sind die Ratlosigkeit und die Skepsis einer Welt gegenüber, in der der Mensch nichts ist als ein Kostenfaktor zwischen Angebot und Nachfrage. Böwe ist jetzt 70 Jahre alt geworden und befindet: „Wenn ein Schauspieler da oben steht, der nicht mehr weiß, warum er da steht, muß er abtreten. Wenn er nicht mehr reden kann, weil er kein Motiv hat, soll er lieber schweigen.“ Und wie der Herr Paul bekennt „Ich will nicht“, so begründet der Erzkomödiant Böwe mit diesem Buch schweren Herzens, wie man erkennt, seinen Rückzug.

Es ist sicherlich bedauerlich, daß vieles so allgemein bleibt. Daß DDR-Erfahrungen nicht deutlich benannt und aufgearbeitet und daß die der Gegenwart geschuldeten Veränderungen im gesellschaftlichen Umfeld nicht konkret genannt werden. Trotzdem: Die Haltung Böwes ist ehrlich und konsequent, und sie verlangt unseren Respekt. Das Buch wird trotzdem keine runde Sache.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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