Eine Rezension von Licita Geppert


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Schuld und Sühne

 

Roland Adloff: Der Advocatus

Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 1999, 390 S.

 

 

Unerträglich sind sie geworden, die Verhältnisse in preußischen Landen im Jahre 1705. Hier die Prachtentfaltung bei Hofe, die sich trotz des leidenschaftlichen Franzosenhasses des Königs an Ludwig XIV. orientiert - dort eine unglaubliche Armut unter der Bevölkerung, die schon auf die große französische Revolution hinweisen könnte. Auf beiden Seiten ist die Entwicklung folgerichtig: Das „Dreifache Weh“ - die Grafen Wartenberg, Wittgenstein und Wartenleben - beherrscht König und Staat, preßt aus den Ärmsten das Letzte heraus und leitet es um in die eigenen Taschen. Die Korruption blüht, und nicht nur das Berliner Justizwesen ist zu einem einzigen Schlachtefest verkommen. Dem gegenüber steht eine ausgeblutete Bevölkerung, deren Randgruppen immer größer werden. Immer mehr Menschen werden aus Not zu Dieben, Räubern, Mördern, bis schließlich aus der Not eine Weltanschauung geworden ist.

In dieser Zeit studierte der junge Paul Herzfeld in Halle die Jurisprudenz bei dem berühmten Juristen Thomasius, einem Lehrer, der vom Licht der Aufklärung durchdrungen war und mit seinen Schriften und Urteilen über das Justiz-Unwesen die „verstaubten Perücken“, deren Ansichten auf den Theorien Benedikt Carpzovs basierten, zutiefst erschütterte. So liefern sich die Anhänger der verschiedenen Seiten erbitterte verbale Schlachten. Die historisch überlebten, nichtsdestoweniger jedoch noch mächtigen Anhänger der Folter schrecken auch vor Intrigen nicht zurück, um die Richtigkeit ihrer Position zu beweisen. Es soll ein Exempel statuiert werden.

Zwischen diese Mahlsteine gerät der junge, unerfahrene Advocatus, der in Berlin zunächst bei seinem Onkel unterkommt, dem angesehenen Geheimen Justizrat Paul Avenarius, der seinem Neffen die Türen in die gehobenen Kreise zu öffnen bereit ist. Er überträgt ihm auch gleich seinen ersten Fall: einen des Kirchendiebstahls bezichtigten Dieb. Nicht nur, daß es keinerlei Beweise gegen diesen angeblichen Dieb gibt, Herzfeld weiß hundertprozentig, daß der junge Mann den Diebstahl nicht begangen haben konnte, da er zu diesem Zeitpunkt an einem Überfall auf Herzfelds Kutsche beteiligt gewesen war und ihm dabei das Leben gerettet hatte. So sitzt der Advocatus in einer persönlichen Falle. Da er sich nicht als Zeuge zur Verfügung stellen kann (das eine wie das andere Verbrechen würde für den Delinquenten zum Todesurteil führen), muß er - sehr zum Ärger des Richters und seines Onkels - nach anderen Beweisen für die Unschuld seines Mandanten suchen, der kurz davor ist, unter der Folter alles zu gestehen, was man von ihm hören will. Herzfeld ahnt nicht im mindesten, auf welches heiße Pflaster er sich gerade begibt. Mit einem gehörigen Schuß Naivität stolpert er durch die Berliner Stadt- und Justizlandschaft und merkt erst am Schluß, welch schmutziges Komplott hinter dem Fall steckt.

Adloff erzählt uns eine Geschichte, die eigentlich keine ist, denn es gibt keine Entwicklung, der Handlungsaufbau wird bestimmt vom zufälligen Aktionismus eines von humanistischen Ansichten beseelten jungen Advocaten. Aber der Autor erzählt diese Geschichte so bunt und lebendig, daß man lange Zeit nicht merkt, daß nichts geschieht. Er glänzt vor allem durch das Lokalkolorit, das er prall und dramatisch ausmalt. Es ist wie eine endlose Aneinanderreihung von Bildern, von denen eines das nächste an Vielfarbigkeit oder Schrecken übertrifft. Es ist auch eine Anhäufung von Skurrilitäten, von denen die Pudelmütze aus echtem Pudelfell noch die harmloseste ist. Genüßlich beschreibt er jede Art von Folterwerkzeug (denn die Folter ist das eigentliche Thema des Buches) und dessen Verwendung, wir waten knöcheltief im Dreck der Kerkerzelle und ersticken im Gestank menschlicher Exkremente. Gelegentlich gehen Adloff auch die Pferde durch, wenn er in Wörtern wie „Ficke“ (statt Geldkatze oder -beutel) schwelgt oder einen der Kerkerinsassen unentwegt im Dreck mit einer Kindsmörderin kopulieren läßt oder wenn er von in Butter geschwenkten Kartoffeln mit doppelt raffiniertem Zucker schwärmt, die „die Weiber ganz rangisch“ machen... Was er der Szenerie an Buntheit zu geben vermag, fehlt bei der Gestaltung der Romanfiguren, sie bleiben auf Typen beschränkt, klischeebehaftet und ebenfalls ohne Entwicklungsspielraum. Die angedeutete Liebesbeziehung Herzfelds zu seiner Cousine Lucie bleibt episodenhaft in den Anfängen stecken. Auch die tiefergehenden Fragestellungen werden nur kurz gestreift: nach der Angemessenheit von Strafen, der Unmenschlichkeit der Folter, dem Sinn oder Unsinn eines unter der Folter erpreßten Urteils, aber auch der (Nicht-)Berechtigung einer Strafe, wenn im speziellen Fall die Unschuld erwiesen ist, der Lebenswandel des Betreffenden jedoch hinreichend Anlaß zu weitergehenden Vermutungen bietet.

So endet dieser Roman - wie soll es anders sein - in einem (allerdings recht freundlich übergangenen) Desaster für nahezu alle Beteiligten. Am schlimmsten aber trifft es den unschuldig Angeklagten, der nach seiner Freilassung ziemlich unglaubwürdig in eine tödliche Falle getappt ist, während Herzfeld mit der königlichen Mätresse Gräfin Wartenberg fröhlichen Abschied feiern kann.

Adloff verfügt über gute historische Sachkenntnis und ein unleugbares Erzähltalent. Eine konsequentere Handlungsführung und intensivere Personengestaltung sollten seine nächsten Arbeiten bestimmen, damit aus einem bunten Bilderbogen ein großer Roman werden kann. Man darf darauf gespannt sein.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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