Eine Rezension von Willi Glaser


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Physikgeschichte einmal anders

 

Margaret Wertheim: Die Hosen des Pythagoras
Physik, Gott und die Frauen.
Aus dem Englischen von Karin Schuler, Karin Miedler und Silke Egelhof.

Ammann Verlag, Zürich 1998, 390 S.

 

 

Margaret Wertheims Reise in die Physikgeschichte beginnt im 6. Jh. v. Chr., der Wirkungszeit des Laotse und Konfuzius in China, des Buddha in Indien, des Zarathustra in Persien und Pythagoras in Griechenland. Während bis dahin die Natur im wesentlichen als Summe und Ausdruck göttlicher Aktivitäten betrachtet und deren Variationsbreite der Pflichterfüllung und Launenhaftigkeit verschiedenster Götter und Dämonen zugeordnet wurde, begannen jetzt z. B. die Griechen, sich von mythischen Klärungsversuchen abzuwenden, um physikalische Deutungen zu finden.

Eine bedeutende Rolle spielte dabei Pythagoras. Er war schon zu Lebzeiten eine Legende, weil man den Gott Apoll für seinen Vater hielt. Dieser Pythagoras von Samos sah die Wirklichkeit als Verkörperung der immateriellen Magie der Zahlen und faßte seine Lehre - in der sich Wissenschaft und Religion verbanden - in der These „Alles ist Zahl“ zusammen. Danach hatten Zahlen ethische und moralische Eigenschaften. Ungerade Zahlen galten als männlich, gerade als weiblich. Ethisch waren ungerade Zahlen gut, gerade eher schlecht, womit Frauen (sozusagen automatisch) dem Bösen zugeordnet waren. Es galt der Grundsatz, daß höher oder besser bewertete Eigenschaften auf der männlichen Seite gebucht wurden und niedrigere oder schlechtere auf der weiblichen. Die Zahl 1 war oberstes männliches Prinzip und der materiefreien Gottheit Apoll gleichgesetzt. Oberstes weibliches Prinzip war die Zahl 2. Die 2 war die mit der Materie verbundene Zahl. Mithin war Männlichkeit Ausdruck des Himmlischen, des Körperlosen, und Weiblichkeit verband man mit Irdischem, mit Materiellem. Die Beschäftigung mit der Mathematik galt bei den Pythagoreern als Kommunikation mit dem überirdischen Reich der Zahlen-Götter.

So reiht sich Kapitel an Kapitel, eines wie das andere ausgestattet mit sorgfältig aufbereiteten Rechercheergebnissen zur Wissenschaftsgeschichte, aus der Welt dessen, was man ursprünglich unter Physik verstand und was heute wissenschaftlich zweigeteilt als Physik und Astronomie erforscht und gelehrt wird. Den jeweiligen naturwissenschaftlichen Kenntnisperioden sind die korrespondierenden philosophischen Auffassungen und Lehrmeinungen zugeordnet. Vorwiegend handelt es sich dabei um Untersuchungen im sogenannten westlichen Kulturkreis.

Schon bei der Frage nach dem Sinn des Buchtitels kann man relativ leicht auf die Idee kommen, daß der Rolle der Frau in der Wissenschaftsgeschichte in Die Hosen des Pythagoras besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. So zieht sich denn auch gleich einem roten Faden der historisch belegte Nachweis ständiger Benachteiligung der Frau im Zusammenhang mit Erwerbs- und Verwertungsmöglichkeiten naturwissenschaftlicher Kenntnisse und Fähigkeiten, in Besonderheit der Fachdisziplinen Mathematik und Physik, durch das Buch. Eine besonders tiefe Kluft zwischen den wissenschaftlichen Kenntnissen beider Geschlechter bestand offenbar im hohen Mittelalter, wo man fast von einer Ausgrenzung der Frauen aus der Kultur des Wissens sprechen konnte. Margaret Wertheim untersetzt ihre These mit umfangreichem Faktenmaterial. Dazu gehören beispielhaft Wesen und Funktion der Domschulen, die sich im 12. und 13. Jh. zu den führenden Bildungszentren entwickelt hatten und für Frauen nicht verfügbar waren, und die Entwicklung des Latein als „Geheimsprache“ eines elitären Clubs in Gestalt des Klerus. Selbstverständlich waren die meisten Männer dieser Zeit hiervon auch ausgegrenzt, aber die Frauen waren als komplette gesellschaftliche Gruppe ausgeschlossen, weil sie vom Grundsatz her nicht Kleriker werden konnten.

Diese Tendenz zeigte sehr lange Zeit Kontinuität. So wurde in der 1666 in Paris gegründeten französischen Akademie der Wissenschaften erst mehr als 300 Jahre später (im Jahre 1979) erstmals eine Frau ordentliches Mitglied. Selbst der Nobelpreisträgerin für Physik, Marie Curie, war diese Ehrung versagt worden.

Im Rahmen biographischer Passagen zu bedeutenden Astronomen und Physikern wie Aristoteles, Kopernikus, Galilei, Newton, Einstein und vielen anderen werden natürlich auch herausragende Frauen und ihre Rolle in der Wissenschaftsgeschichte skizziert. Stellvertretend für diese Gruppe sei hier das Porträt für Lise Meitner, der ersten deutschen Professorin für Physik, genannt.

Man kann nicht sagen, daß das relativ häufig angestimmte Klagelied von der Benachteiligung der Frau auf dem Feld der Wissenschaften die Lust am Weiterlesen bremst. Ganz im Gegenteil: Sauber recherchiert, verständlich formuliert (selbst bei nicht gerade unkomplizierten Übersichten zur Entwicklung von Spezialdisziplinen wie der Quantenmechanik) und angereichert mit problemaufhellenden Anmerkungen zu den einzelnen Kapiteln sowie mit einem zum vertiefenden Studium anregenden bibliographischen Register, sind Die Hosen des Pythagoras ein außerordentlich interessanter Beitrag zum Verständnis wissenschaftsgeschichtlicher Problemstellungen auf beachtenswert hohem populärwissenschaftlichem Niveau.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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