Eine Rezension von Volker Strebel


Europa liegt in Böhmen

Walter Schmitz/Annette Teufel/Ludger Udolph/Klaus Walther: Böhmen am Meer

Chemnitzer Verlag, Chemnitz 1997, 223 S.

 

Shakespeare hatte Böhmen an das Meer verlegt, und dabei blieb es und inspirierte bis in unsere Tage nicht zuletzt auch eine Dichterin vom Range einer Ingeborg Bachmann. Die Autoren dieser vorliegenden Sammlung hingegen sahen noch genauer hin - schließlich sind sie alle vom Fach und wissen es dementsprechend besser - und vermochten bereits im zweiten Kapitel festzustellen: „Europa liegt in Böhmen.“ Kundig und dennoch knapp werden dem Leser literarische Verbindungslinien vorgeführt, die ein mittelalterliches Europa zusammengehalten hatten - ein Europa, das in „Reiche und Sprachräume“ gegliedert war, „jedoch ganz ohne eine nationale Fundierung“ auskam. Daß der Nationalstaatsgedanke, verschärft im 19. Jahrhundert aufkommend, bis jetzt seine unseligen Auswirkungen entfalten konnte, wird in diesem Bändchen eingehend und historisch fundiert belegt. Dabei wird deutlich, welche Traditionen durch das Gift chauvinistischer Hysterie zerstört und verschüttet wurden.

Übrigens läßt sich aus heutiger Sicht zeigen, daß ein einseitiger und blinder Nationalismus gleichsam an sich selbst, in Böhmen nämlich, sein verderbliches Vermächtnis exekutiert hat. Der Blick auf die Literatur verdeutlicht die Problematik einer fein säuberlichen Auftrennung in „deutsch“ oder „tschechisch“; viel zu verzweigt und verschlungen sind die unterirdischen Verwurzelungen. Die Autoren zitieren Jan Krens Konfliktgemeinschaft ebenso wie das Werk von Friedrich Prinz Deutsche und Tschechen - ein Zweivölkerschicksal. Prinz zeichnet für die Forschungsergebnisse der neuesten Volkskunde, die „viele Gemeinsamkeiten der materiellen und geistigen Volkskultur beider Völker (des deutschen wie des tschechischen in Böhmen) herausgearbeitet und damit einen älteren ,bohemistischen‘ Mentalitätshorizont und Bewußtseinszustand wieder ans Tageslicht gebracht hat, der die schroffe ideologische Trennung von Sudetendeutschen und Tschechen zurückweist und breite Berührungs- und Verschmelzungszonen im räumlichen, materiellen und geistigen Bereich bloßlegt“.

Es sind die totalitären Ideologeme gleich welcher Schattierung, denen friedliche Nachbarschaften suspekt sind. Organische Verbindungen erscheinen ihnen wie gordische Knoten, die durchschlagen werden müssen. Der Satz von Milan Kundera, daß „der Kampf des Menschen gegen die Macht der Kampf der Erinnerung gegen das Vergessen (ist)“, gemahnt an eine gemeinsame Aufgabe.

Die Autoren, bis auf Klaus Walther allesamt an der Technischen Universität Dresden unterrichtend, skizzieren diese Spuren, schraffieren nach oder kolorieren nach Bedarf, und die angegebenen weiterführenden Titel belegen, daß sie sich auf dem aktuellsten Stand der historischen und literarischen Forschung befinden. Ohne Übertreibung läßt sich bei diesem vorliegenden Büchlein von einer kleinen Meisterleistung sprechen, da auf engstem Raum die wesentlichen Aspekte der „Literatur im Herzen Europas“ abgehandelt werden. Die deutsch-tschechische Symbiose in Böhmen hatte ein geistig-kulturelles Zentrum im Herzen Europas entstehen lassen. Der Hussitismus und die Pansophie des Jan Amos Comenius, die Kralitzer Bibelübersetzung die konkrete Metaphysik am Hofe Rudolfs II. - sämtliche Schlüsselbewegungen, die Europa letztlich in Atem halten sollten, besaßen in Böhmen, wenn nicht ihren Ausgangspunkt so doch ihr spezifisches Gepräge. Ob es das fruchtbare Zusammenleben verschiedener Sprachen über Jahrhunderte oder der Schrecken ethnischer Säuberungen ist, die Schicksale von Flucht und Exil angesichts der Verfolgung durch Diktatur und Rassenhaß oder die Solidarität im Zeichen von Humanismus und Moral. Eine verwurzelte Gleichzeitigkeit von Verschiedenem mag bei der Prägung einer Kulturblüte, wie sie beispielsweise das Prag um die Jahrhundertwende hervorbrachte, eine Rolle gespielt haben - „Selbstverständlich war das Wunder nicht: Prag war eine Provinzhauptstadt mit einer halben Million Einwohner, davon nur zehn Prozent deutschsprachig und von diesen wiederum mehr als die Hälfte jüdischer Herkunft.“ Gerade weil die Autoren diese Bewegungen im Spiegel der Literaturen darstellen, ist eine anschauliche Lektion entstanden. Von Goethe in Böhmen über den Golem und Josef Schwejk bis zur verlorenen Heimat wird berichtet. Eduard Goldstückers Kafka-Konferenz in Liblice und Erfahrungen des tschechischen Exils in Europa - vor dem aufgezeigten geschichtlichen Panorama deuten sich unerwartete Vernetzungen dieser Stationen an.

Deutsche und Tschechen, ihr Schicksal ist enger miteinander verknüpft, als sie es möglicherweise selbst wahrhaben wollen. Für eine gemeinsame Zukunft in einem freien Europa wäre dies kein schlechter Ausgangspunkt. Andererseits bieten sich erfolgreiche Chancen ausschließlich jenen, die sie als solche begriffen haben.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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