Eine Rezension von Jürgen Harder


Der Fall Walser

Joachim Rohloff: Ich bin das Volk
Martin Walser, Auschwitz und die Berliner Republik.

Konkret Literatur Verlag, Hamburg 1999, 139 S.

 

Seit März 1999 liegt es vor. Das erste Buch zur sogenannten Walser-Debatte. - Endlich also die schön geordnete Sammlung aller (oder doch zumindest aller wichtigen) Beiträge in ebenso gefälliger wie handlicher Buchform? Mitnichten. Der Titel suggeriert es zur Genüge. Statt einer objektiven Text-Dokumentation zum „Streit des Jahres 98“ - mit leserfreundlicher Aufbereitung und hilfreicher Kommentierung - erwartet den Leser vielmehr eine Streit- und Schmähschrift, die Partei nimmt. Gegen Walser. Und aus tiefer Sorge.

Joachim Rohloff fokussiert des Lesers Aufmerksamkeit auf Indizien für ein angeblich immer ungenierteres öffentliches Hervortreten des Antisemitismus in Deutschland. Im wiedervereinigten Deutschland. In der „Berliner Republik“. Hierbei komme Walsers Rede anläßlich seiner Auszeichnung mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels am 11.Oktober 1998 eine Schlüsselrolle zu. Dieser wortmächtige Groß-Auftritt des deutschen Dichters, den zwölf hundert honorable Repräsentanten Deutschlands mit Standing ovations gefeiert hatten; und das, was Walser aus den „1000 Briefen“, die er nach seiner Rede erhielt, herauslas: die „befreiende“ Wirkung auf seine deutschen Landsleute - für Rohloff beweise dies nichts anderes als die „Befreiung“ eines bösen Geistes aus der Flasche. „Des geschichtspolitischen Projekts der Rechten, nämlich Deutschland vom Nationalsozialismus zu entlasten, hat Walser sich angenommen, und die ganz breite neue und alte Mitte scheint ihm zu folgen.“ Einzig dem politischen Aufschrei von Ignatz Bubis, dem Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, der Walser „geistige Brandstiftung“ vorwarf, sei es zu verdanken, daß die angestrebte „Versöhnung von deutscher Normalität und deutscher Anormalität“ überhaupt ins kritische Licht der deutschen Öffentlichkeit gelangte.

„Der Fall Walser markiert den eigentlichen Beginn der sogenannten Berliner Republik. Er ist - mehr noch als der Historikerstreit - ein Kulturkampf.“ - „Ja, eindeutig. Der Historikerstreit war etwas für Intellektuelle, für Akademiker. Das jetzt geht viel weiter in die Gesellschaft hinein, in viel breitere Schichten. Deshalb war mir diese Intervention so wichtig. Vielleicht kann man ja den einen oder anderen noch ein bißchen aufklärend beeinflussen.“

Diese Sätze entstammen einem Gespräch zwischen Hermann L. Gremliza und Ignatz Bubis. Sie finden sich im Anhang des vorliegenden Buches - und können zugleich als dessen konzeptioneller Kern betrachtet werden. Ganz in Bubis Sinne bemüht sich Rohloff - in einem Dreischritt - um „aufklärende Beeinflussung“. Zunächst widmet er sich einer quellengestützten Aufhellung der geistigen und politischen Entwicklung Walsers, in welcher alles schon angelegt und vorbereitet war für seinen Auftritt in der Paulskirche. Rohloffs zweiter Schritt führt uns ins Zentrum: zur Rede selbst und der erbitterten Auseinandersetzung um dieselbe. Mit dem inhaltlichen Schwerpunkt: „Auschwitz als Moralkeule“. Drittens schließlich führen alle Wege der Walser-Debatte zur „Berliner Republik“, die sich - nach Rohloff - mit vielem anfreunden könnte - nur nicht mit einem Mahnmal für die ermordeten europäischen Juden mitten im Herzen der Hauptstadt. Und sollte es am Ende wirklich kein Mahnmal in Berlin geben, dann wisse man wenigstens, an wen der „Dank“ zu richten sei: an Martin Walser.

Zugegeben: So grobschlächtig verkürzt, verraten die Botschaften des Buches allenfalls den Vorsatz der „Beeinflussung“. Wieviel „Aufklärung“ der Autor jedoch auf dem Wege zu seinen Ergebnissen tatsächlich leistet, mag der Leser entscheiden, wenn er Rohloffs Argumente abwägt und alle mobilisierten Fakten würdigt. Der Aufklärung über Wesen und Tragweite der Walser-Debatte förderlich ist zumindest der Zitatenreichtum, mit dem der Autor operiert. So erwirbt der Leser mit diesem Buch - befreit von aller Redundanz - also doch noch ein „Protokoll“ des Substantiellen dieser „Kontroverse des Jahres“. Zur anregenden Erinnerung: Das Spektrum der Positionen reicht von Bundespräsident Roman Herzog und Bundeskanzler Gerhard Schröder über Rudolf Augstein, Egon Bahr, Klaus von Dohnanyi, Richard von Weizsäcker bis zu Lothar de Maizière, Antje Vollmer und Theo Waigel. Es schließt Schriftsteller und Publizisten ein, die sich in der Sache positionierten: von Monika Maron, Günter Grass, Reiner Kunze und Peter Schneider bis zu Marcel Reich-Ranicki und Henryk M. Broder. Es spiegelt das breite Meinungsbild „aus dem Volke“ wider, von den umfassenden Beiträgen in so wirkungsmächtigen Printmedien wie „Die Zeit“ und „Der Spiegel“ bis zum Abdruck zahlreicher Leserbriefe in nahezu allen Blättern des Landes. Natürlich wird das so aufschlußreiche wie bezeichnende Echo der Walser-Rede in der rechtsextremen Presse dokumentiert. Und selbstverständlich versorgt Rohloff uns auch mit der Summe des unversöhnlichen „Versöhnungs-Gesprächs“ zwischen Bubis und Walser in den heiligen Hallen der FAZ. Eine Materialfülle - die der Autor freilich für seine Beeinflussung zu nutzen sucht und die dem „mündigen Leser“ jederzeit seine ganz eigene Deutung ermöglicht.

Respekt: Um seine Leser „aufklärend zu beeinflussen“, setzt Rohloff beachtliche Gaben ein. Einen scharfen Intellekt und einen nuancenreichen Stil, der souverän die ganze Bandbreite eines Pamphlets - im besten Sinne - bedient. Zur Aufklärung aber gehört immer auch intellektuelle Redlichkeit. Sie zu mißachten - das sage ich als ein Kritiker der Walser-Rede- schadet der Glaubwürdigkeit des Kritikers und bringt dessen Kritik um das wichtigste: die Überzeugungskraft. So frage ich: Warum findet sich in Rohloffs Buch kein Wort darüber, daß Walser seine inkriminierten Äußerungen zu Auschwitz mit einer ebenso entschiedenen wie unmißverständlichen Absage an alle Auschwitz-Leugner und alle Auschwitz-Verharmloser beginnt. Mit einer Abgrenzung also, die niemand leichtfertig übergehen oder gar böswillig unterschlagen sollte. Schon gar nicht in einem Lande, in welchem jeder einer zuviel ist, der seinen kriminellen Geschäften der Holocaust-Leugnung und der Auschwitz-Verharmlosung nachgeht. Weiter: Beim Umgang mit Auschwitz, beim mahnenden Erinnern an diese deutsche Schande schlechthin, will Walser - eben auch für heute - nur ein Motiv als angemessen gelten lassen: das Nichtvergessendürfen! Also: Da ist eine aufrichtige Mahnung zum richtigen Erinnern und Gedenken an Auschwitz. An ein unvergleichliches Verbrechen - mit all seinen unausweichlichen moralischen, politischen und ökonomischen Konsequenzen für Deutschland und die Deutschen. Und dann - unerhört!?- maßte sich Walser, im selben Atemzug, auch noch an, uns zu ermahnen: wozu Auschwitz sich nicht eignet!

Walsers Rede bietet substantieller Kritik wahrlich Angriffsflächen genug. Wer mit seiner fundamentalen Kritik, wie sie Rohloff vorträgt, ernst genommen werden will, der muß auch Walsers Differenzierungen ernst nehmen. Diese lassen sich schließlich nicht auf das Niveau von Wortklauberei oder Haarspalterei herunterziehen. Die bewußte Einebnung dieser Differenzierungen hat ja viele Attacken auf Walser überhaupt erst möglich gemacht. Außerdem: Wer wollte den Anteil an Heuchelei leugnen bei der hellen Aufregung über Walsers kritisches Wort zur „Instrumentalisierung von Auschwitz“? So makaber wie wahr: Mißliche Instrumentalisierungen - also der Mißbrauch - von Auschwitz stehen heute nicht nur politisch „hoch im Kurs“. Der ehemalige KZ-Häftling und ungarische Schriftsteller Imre Kertèsz sieht bereits eine ganze Industrie auf unseligem Beutezug: mit „Holocaust-Produkten“ für „Holocaust-Konsumenten“. Rohloff weiß auch dies - und läßt es in seinem Buch dennoch „außen vor“. Mehr noch vermisse ich des Autors Stellungnahme zur differenzierten Position des Juden und Akademiepräsidenten György Konràd. Dessen wichtiger Beitrag war als „Nachtrag zur Walser-Bubis-Kontroverse“ in der „Zeit“ vom 22. Dezember 1998 schwerlich zu übersehen.

Trotzdem. Was hier vorliegt, ist ein Buch - mit Biß. Politisch und geistig. Es ist eine Empfehlung wert.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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