Eine Rezension von Herbert Mayer


Kontinuität und Diskontinuität

Gerhard A. Ritter: Über Deutschland
Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte.

C. H. Beck, München 1988, 304 S.

 

Der Autor ist Jahrgang 1929 und war bis zu seiner Emeritierung 1994 Professor für Neuere und Neueste Geschichte in München. Sein Publikationsverzeichnis ist lang, und er kann, auch in Anbetracht seiner früheren Ämter, durchaus zu den Bekanntesten der deutschen Historikerzunft gezählt werden. Der Verlag preist den vorliegenden Band etwas überschwenglich, Ritter bestimme „erstmals den Ort der Bundesrepublik in der deutschen Geschichte“. Darüber kann man hinweggehen und das Ganze als Reklame abtun. Doch als Frage bleibt, sind Titel und Untertitel symptomatisch für das dominierende Geschichtsverständnis im vereinigten Deutschland? Offenbar gelten oft (Alt-)Bundesrepublik und Deutschland als identisch. Wenn deutsche Geschichte nach 1945 im Blickpunkt steht, wird der Blick allzuoft allein von der Sicht auf die Bundesrepublik geprägt, während der zweite deutsche Teilstaat ausgeblendet und somit die parallele, die doppelte deutsche Geschichte ignoriert wird. Ritter vermeidet diese und durch die Titellage zu befürchtende einseitige Beschränkung und richtet seine Untersuchung sowohl auf die Entwicklung der (Alt-)Bundesrepublik und der DDR, auf ihre Vorgeschichte und auf das vereinigte Deutschland. Sein Anliegen ist, „den Ort der drei deutschen Staaten - der alten Bundesrepublik, der DDR und der Bundesrepublk nach der Vereinigung - in der deutschen Geschichte zu bestimmen“.

Mit seinem Buch will Ritter die Diskussion über die historischen Wurzeln der Bundesrepublik anregen. Probleme der Kontinuität und Diskontinuität, das Weiterbestehen von Altem und Entstehen von Neuem sind Grundelemente seiner Darstellung. Ritter verfolgt den Wandel in Verwaltung und Beamtenschaft, Schulen und Universitäten, Medien, Wirtschaftseliten, Rechtswesen und Gesetzgebung, Kommunen, Arbeits- und sozialen Fragen, Parteiwesen, Militär und anderen Bereichen. Er gliedert den Stoff in vier Kapitel: „Kontinuitäten und Diskontinuitäten in staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen Westdeutschlands nach 1945“, „Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik im Wandel“, „Brüche und ältere Traditionen in der DDR“ sowie „Ein Staat, zwei Gesellschaften“. Natürlich kann er nichts völlig Neues bringen, doch liefert er in den einzelnen Abschnitten eine Fülle von Details, Informationen und Fakten.

Ritter erörtert, welche unterschiedlichen Traditionslinien die Entwicklung beider deutscher Staaten nach 1945/49 bestimmten und wie sich Wandlungen vollzogen. Beide deutschen Teilstaaten mußten sich nach 1945/49 mit der Erblast der nationalsozialistischen Herrschaft auseinandersetzen. Die Bundesrepublik habe vor allem an frühere, im Nationalsozialismus verschüttete oder pervertierte Entwicklungslinien der Rechtsstaatlichkeit, des Föderalismus, des Parlamentarismus und der sozialen Solidarität angeknüpft. Der Bruch mit deutschen Traditionen für die Zeit vor 1945 war im Osten viel radikaler.

Als problematische Punkte der Entwicklung wertet er in der Bundesrepublik die verzögerte, in der DDR die einseitige Auseinandersetzung mit der NS-Zeit. In der Bundesrepublik verstärkte sich dies durch das faktische Scheitern der Entnazifizierung und die Kontinuität in den Eliten, so durch das Gewicht der funktionalen Eliten des NS-Staats beim Wiederaufbau. „Vielfach wurde im Zeichen des einsetzenden Kalten Krieges die Kritik am Nationalsozialismus durch den Antikommunismus überlagert oder ersetzt“, verbunden mit der Auffassung, „daß ein Schlußstrich unter die Vergangenheit gezogen werden sollte, um sich ganz dem Wiederaufbau und der Abwehr der kommunistischen Bedrohung von innen und außen widmen zu können“. Die Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit habe sich in der Bildung einer Art Junktim zwischen Rehabilitierung der militärischen, bürokratischen und wirtschaftlichen Eliten und der Westintegration der Bundesrepublik gezeigt. Die Entnazifizierung habe im Osten zu einem vollständigen Austausch der Eliten in Schule, Justiz, Verwaltung und Polizei geführt, während bestimmte Berufsgruppen (z. B. Ärzte, Post- und Bahnangestellte) kaum betroffen gewesen wären.

Ritter wendet sich gegen die Charakterisierung der westdeutschen Nachkriegsentwicklung als Restauration, der Begriff sei tendenziös, zudem konnte es eine Restauration des Kapitalismus gar nicht geben, da Deutschland (gemeint ist Westdeutschland!) „immer eine im wesentlichen auf dem Privatbesitz aufbauende kapitalistische Wirtschaft behalten habe“. Die seit den 50er Jahren einsetzende Modernisierung ist für ihn die entscheidendste Entwicklung. Er polemisiert gegen die These einer relativ offenen Situation in der SBZ 1947/48, findet aber in der Entwicklung des Parteiwesens demokratische Anfänge. Den Ort der DDR in der deutschen Geschichte zu bestimmen, hält er für schwierig. Auch wenn autoritäre Traditionen der deutschen Geschichte in der DDR stärker als in der Bundesrepublik erhalten geblieben seien, wäre es falsch, zu enge Parallelen zum Nationalsozialismus oder zum Kaiserreich zu ziehen. Entscheidend sei, daß sie vor allem ein Klientelstaat der Sowjetunion war, ihr eine nationale Basis fehlte und sie ständig in Systemkonkurrenz mit der Bundesrepublik stand. Er charakterisiert die DDR als eine „durchherrschte Gesellschaft“, die sich von einer „totalitären zu einer autoritären Diktatur mit erheblichen totalitären Elementen entwickelt“ habe. Sie sei keine Elendsgesellschaft gewesen, sondern habe ihren Bürger „ein umfassendes System der sozialen Sicherheit und einen Lebensstandard“ deutlich über dem der anderen „Länder des sozialistischen Ostblocks“, die Referenzgesellschaft aber blieb die leistungsfähigere Bundesrepublik.

Er betont, daß vier Jahrzehnte unterschiedlicher Entwicklung nach 1989 die Schaffung einer inneren Einheit (in welchem deutschen Staate gab es eine solche überhaupt?) hemmten. Nach der Vereinigung sei die Umstrukturierung in der Wirtschaft besonders deutlich geworden (bis Ende 1993 haben nur 29 % der 1989 Erwerbstätigen ununterbrochen im gleichen Betrieb gearbeitet). Er verweist darauf, daß sich unterschiedliche Mentalitäten herausbildeten und schnell eine spezifische Ostidentität entstand. Viele Ostdeutsche seien mit den Ergebnissen der Vereinigung unzufrieden, dennoch wäre es falsch, sie „unter dem Strich als Verlust für die Menschen in Ostdeutschland zu bilanzieren“. Die Wiedervereinigung sei nur eines, wenn auch das schwierigste der Probleme, vor denen die erweiterte Bundesrepublik bei Anpassung an den Wandel der Bedingungen und Verhältnisse in der Welt steht. Entscheidend ist für Ritter, ob es gelingt, ein „größeres Maß an innerer Einheit zwischen den neuen und den alten Bundesländern herzustellen“. Sonst bestehe die Gefahr, daß „auf Dauer in einem gemeinsamen Staat zwei deutlich voneinander geschiedene Gesellschaften nebeneinander existieren“. Die Geschichte der Bundesrepublik habe aber eine „bemerkenswerte Mischung von Kontinuität und Wandel“, so daß es immer wieder geglückt sei, sich anzupassen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite