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Literaturstätten

Turbulentes Überleben Das Theater o. N. (Zinnober)

 

Anfang und Ende verschwimmen in der Unschärfe. Der Name „Zinnober“ kann die Figur von E. T. A. Hoffmann meinen oder die Farbe oder einfach nur die Magie des Klanges. Gegründet wurde das erste und lange Zeit einzige freie Theater der DDR, wenn man die Vorgeschichte einrechnet, von 1975 bis 1980. 1975 starteten junge Puppen- und Schauspieler in Neubrandenburg den Versuch, im Rahmen eines neugegründeten Staatlichen Puppentheaters freier zu arbeiten, als dies gemeinhin üblich war. Nicht frei genug, befanden einige von ihnen und kündigten 1979. Im gleichen Jahr hatten in Berlin zwei Absolventen der Schauspielschule, Abteilung Puppenspiel, gemeinsam ein Stück erarbeitet und sich dafür den Namen „Zinnober“ gegeben. 1980 fanden die beiden Gruppenteile nebst Anhang (darunter der Verfasser dieser Zeilen) zusammen und machten, was eigentlich undenkbar war in der DDR und daher nicht explizit verboten: Sie gründeten ein freies Theater. Das „theater Zinnober“ wurde schnell bekannt, zum einen deshalb, weil es die einzige große nichtstaaliche Gruppe war, zum anderen (wenn nicht vor allem deshalb), weil die Inszenierungen Aufsehen erregten. Liebevoll-solide inszenierte Stücke für Kinder („Einzweidreivierfünfsechssieben“, „Die Bremer Stadtmusikanten“) und zeitgemäß-provokatorisches Theater für Erwachsene („Die Jäger des verlorenen Verstandes“, „Traumhaft“) wurden in Kulturhäusern, Kirchen, Klubs gespielt, auf Festivals mit Preisen ausgezeichnet; Aufführungen wurden beargwöhnt, verhindert, verboten. In den Proberäumen am Berliner Kollwitzplatz zu spielen war prinzipiell untersagt. Ende 1989, die alte Regierung traute sich nichts mehr zu verbieten, die neue hatte noch nichts zu sagen, wurde der größte Proberaum im Handstreich zum Theater erklärt - weil auch andere dort spielen sollten und weil nicht mehr alle Gründer dabei waren, unter neuem Namen: Theater o. N. (inzwischen steht „Zinnober“ in Klammern wieder dahinter).

Zensurprobleme gibt es nicht mehr. Dafür wurden die ökonomischen Probleme fast übermächtig. Die Mieten verzehnfachten sich, nicht aber die Einnahmen. Auch wenn alle Vorstellungen stets ausverkauft wären, könnte das Theater sich nicht selbst erhalten - und das sind sie natürlich nicht. Unter den etwa 200 Theatern und Gruppen in Berlin hinlänglich aufzufallen ist nicht leicht. Sie können besser spielen als werben. Immerhin war das Theater bekannt und gut genug, mehrfach auf die Projektförderliste des Berliner Senats und des Stadtbezirks Prenzlauer Berg zu kommen. So war das Überleben möglich, auch nach der Kündigung der alten Räume und dem Ausbau des neuen Theaters in der Kollwitzstraße 53.

Das Programmangebot ist heute breiter als je zuvor. Zum Stil des Hauses gehört es, daß die Stücke stets mit den Spielern zu tun haben, auch wenn sie von Autoren stammen, daß sie durch Improvisation erarbeitet werden und dadurch eine Unmittelbarkeit und Authentizität jenseits jeder Abspielroutine bekommen. Besonders erfolgreich mit über 80 Vorstellungen virtuoses Theater mit einer angenehmen Beimengung von Selbstironie“ (Tagesspiegel); „unangestrengt, locker und leicht“ (Theater der Zeit), „geht in seiner Aktualität tief unter die Haut“ (Bonner Generalanzeiger). Das von der Zahl der Beteiligten her größte Projekt war „In der 13. Epoche der allgemeinen Begeisterung“ - Miniaturen und Texte von Paul Scheerbart, das mit zehn Spielern die kleine Kammerbühne sprengte und daraufhin für die große Bühne des Kammertheaters Neubrandenburg eingerichtet wurde - eine Rückkehr zu den Ursprüngen. Es gibt ein Gertrude-Stein-Projekt (bisher „Steintafel“ und „Steinbar“, eine weitere Inszenierung wird vorbereitet), es gibt ein durch den Vortrag theatrali-siertes Versepos von Alexander Puschkin - „Zar Saltan“, es gibt das nostalgisch-komische Multimediaprojekt „Milleniumbug“, ferner Lesungen, Gastspiele und zahlreiche Inszenierungen für Kinder, mit Puppen, Schatten, Schauspiel - „Die Regentrude“, „Der kleine Muck“, „Der kleine Häwelmann“, „Die drei kleinen Schweinchen und der Wolf“...

Viele Mitglieder der Gruppe aus den Gründerjahren sind noch oder wieder dabei und längst nicht museumsreif, obwohl sie dort bereits zu besichtigen waren: in der Ausstellung „Boheme und Diktatur in der DDR“. Das könnte zum Schluß verleiten, es habe sich bei „Zinnober“ um eine vordergründig politische Gruppe gehandelt. Der Schluß ist falsch. Es ging immer um Theater. Nicht wir befanden uns im Widerstand gegen den Staat, der Staat befand sich im Widerstand gegen uns. Bekanntlich hat der Staat verloren. Wir sind noch da. Ob wir den jetzigen auch noch schaffen, ist allerdings zweifelhaft.

Hartmut Mechtel


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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