Eine Rezension von Gerhard Keiderling


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Deutsch-deutsche Geheimdiplomatie

 

Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg): Die Häber-Protokolle
Schlaglichter der SED-Westpolitik 1973-1985.

Karl Dietz Verlag, Berlin 1999, 480 S.

 

 

Herbert Häber (Jahrgang 1930) machte in der DDR eine typische Parteikarriere. Mit 16 Jahren in die SED eingetreten, gelang ihm 1951 der Sprung in den zentralen Parteiapparat. In der Westkommission des ZK der SED arbeitete er sich in leitende Funktionen empor. Als 1971 nach sowjetischem Muster das „Institut für Internationale Politik und Wirtschaft“ (IPW) gebildet wurde, wurde ihm im Range eines Professors die Direktion übertragen. Im Dezember 1973 berief ihn Honecker zum Leiter der Westabteilung des ZK, wobei er Heinz Geggel ablöste. Das Revirement fiel in eine Zeit, als nach den Verträgen von Moskau und Berlin die deutsch-deutschen Beziehungen in eine neue, intensive Phase eintraten. Ihr kritischster Abschnitt begann nach 1980, als der NATO-Doppelbeschluß zur Raketennachrüstung eine Eiseskälte in das Ost-West-Verhältnis brachte. Honeckers deutschlandpolitisches Konzept einer „Koalition der Vernunft“, an dessen Formulierung Häber beteiligt gewesen war, stieß bei der Betonfraktion in Moskau auf Verweigerung. Honecker mußte nach der entscheidenden Sitzung vom 17. August 1984 im Kreml nicht nur seine vorbereitete Reise nach Bonn absagen, sondern schlimmstenfalls auch mit dem Vertrauensentzug seiner Moskauer „Freunde“ rechnen. Als Treuebeweis lieferte er mit der Entlassung Herbert Häbers aus dem Politbüro des ZK der SED im November 1985 ein Bauernopfer. Zurückgekehrt aus einer amtlich verordneten psychiatrischen Behandlung, sah sich Häber endgültig kaltgestellt. Daß er ungeachtet seines erzwungenen Ausscheidens aus der Politik in der dramatischen Phase zwischen 1980 und 1985 Beachtliches und Fortdauerndes für ein sachliches Verhältnis zwischen Ostberlin und Bonn bewirkt hatte, bezeugt das vorliegende Buch.

Die Herausgeber, die sich schon mit früheren Arbeiten zu den Beziehungen zwischen der DDR und der BRD (u.a. Von Hubertusstock nach Bonn. 1980-1987, Berlin 1995; Countdown zur deutschen Einheit. 1987-1990, Berlin 1996) als exzellente Kenner dieser Materie ausgewiesen haben, geben einführend eine fundierte Übersicht über die Quellen- und Forschungslage und stellen ihr Thema in den historisch-politischen Kontext. Die 71 Dokumente aus dem früheren SED-Zentralparteiarchiv gliedern sie chronologisch in fünf Kapitel: „Kontaktaufnahme 1973 bis 1975“, „Politik der kleinen Schritte 1976 bis 1979“, „Veränderte weltpolitische Großwetterlage 1980 bis 1982“, „Steiler Aufstieg und tiefer Fall 1983 bis 1985“ und „Observation und Ausschluß 1984 bis 1985“. Es handelt sich ausschließlich um Berichte Häbers über seine Reisen in die BRD, über dort wie auch in der DDR geführte Gespräche mit Bonner Spitzenpolitikern, ferner um Berichte über Zusammentreffen mit sowjetischen Deutschlandexperten und um andere direkte Mitteilungen Häbers an Erich Honecker, die im vollen Wortlaut wiedergegeben werden. Der Band enthält auch die Niederschrift über das Geheimtreffen zwischen Honecker und Tschernenko vom 17. August 1984 in Moskau. Insgesamt entsteht ein klares, in seiner Breite und Tiefe faszinierendes Bild von der deutsch-deutschen Geheimdiplomatie in den 70er und 80er Jahren. Herbert Häber unterhielt nicht nur reguläre Kontakte zu den Leitern der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR, Günter Gaus und Hans Otto Bräutigam. An seine Tür klopften auch Bundesminister und Emissäre aller Bonner Parteien: Martin Bangemann (FDP), Hans Wischnewski (SPD) und Wolfgang Schäuble (CDU), die Bürgermeister von Hamburg, Bremen und Westberlin, ferner Norbert Blüm, Walther Leisler Kiep, Volker Rühe (sämtlich CDU), Egon Bahr, Gerhard Jahn, Hans Koschnik (sämtlich SPD) und viele andere. Was sie in freimütigen Unterhaltungen gewollt oder ungewollt nicht nur über die DDR-Verhältnisse, sondern auch über die Bonner Politik, über westalliierte Ressentiments, über Querelen innerhalb ihrer Parteien und über Vorzüge bzw. Nachteile ihrer Kollegen zu berichten wußten, liest sich noch Jahre später spannend, manchmal auch mit einem Schmunzeln. So meinte Richard von Weizsäcker im März 1980, sein Parteifreund Helmut Kohl „wird niemals Kanzler und besitze auch nicht die Fähigkeiten dafür. [...] Kohl überspiele seine Schwäche durch grobe Worte und scharfe Formulierungen“ (S.235). Verständlich, daß nach der Wende 1989/90 der eine oder andere höchst ungern auf diese Zeit angesprochen werden möchte.

Angesichts der nach wie vor bestehenden „archivalischen Asymmetrie“ (Hermann Weber)- d. h. alle DDR-Akten in der Berliner „Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv“ bis 1989/90 sind mit Ausnahme der Bestände des ehemaligen DDR-Außenministeriums, das 1990 nach Bonn überführt wurde, für die Forschung frei zugänglich, wohingegen für die Bonner Archive eine 30-Jahre-Sperrfrist fortbesteht - kann das letzte Wort über diesen früher streng geheim gehaltenen Bereich der deutsch-deutschen Beziehungen noch nicht gesprochen sein. Irgendwann wird es einen Supplementband aus Bonner Archiven geben müssen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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