Eine Rezension von Klaus Ziermann


Ein literaturgeschichtliches Meisterwerk

Hans Mayer: Deutsche Literatur 1945 - 1985

Siedler Verlag, Berlin 1998, TB, 499 S.

 

„Dies ist keine Geschichte dessen, was man in akademischer Sprache als Neueste Deutsche oder gar als Zeitgenössische Literatur bezeichnet. Es ist auch kein Traktat über Stile, Moden und Ismen“ (S. 9), lauten die ersten beiden Sätze von Hans Mayer. Was aber ist sein Buch dann? Meines Erachtens Literatur-, Autoren- und Werkanalyse vom Allerfeinsten: souverän geschrieben, in geschichtlich große Dimensionen eingeordnet und engagiert in den vertretenen Positionen, denn der Autor hat diesen literaturgeschichtlichen Zeitabschnitt mit zwei deutschen Staaten in Leipzig oder Tübingen bewußt miterlebt und - nicht nur am Podium des Literaturprofessors - ohne Unterlaß auch aktiv mitgestaltet. Was in der Endkonsequenz herausgekommen ist, kann sich jederzeit sehen lassen.

Zwei frühere Publikationen von Hans Mayer aus den Jahren 1988 und 1989 vereint diese Siedler-Taschenbuchausgabe: Die umerzogene Literatur. Deutsche Schriftsteller und Bücher 1945-1967 und Die unerwünschte Literatur. Deutsche Schriftsteller und Bücher 1968-1985. Bestechende thematische Spannbreite, gekonnte Verbindung von Literatur und Gesell-schaftspolitik, Originalität des Denkens und überzeugende Werturteile prägen schon die fünf Kapitel der „umerzogenen Literatur“, in denen es um die Situation „Nach zwei Weltkriegen“, den „Überhang der Traditionen“, „Die fröhliche Restauration und ihre Gegner“, die „Konstellation einer Literatur der DDR“ und - mit einem Rückblick auf die Gruppe 47- „Die Austreibung“ allzu widerspenstiger Geister geht. „Die Revolte“ von 1968 und ihre literarischen Folgen, „Die triste Restauration und ihre Gegner“, „Die Wende“ nach Ablösung der SPD/FDP-Regierungskoalition und Gedanken „Zum Abschluß“ behandeln die vier Kapitel der „unerwünschten Literatur“.

Auch wenn man an einem gelungenen, für meine Begriffe in vielem vorbildlichen Buch nicht unbedingt herumkritteln soll, möchte ich drei Fragen aufwerfen, die interessant genug sein dürften, sie weiter zu debattieren.

Die erste betrifft Hans Mayers Position zur DDR-Literatur: Ihr spezifischer ästhetischer Beitrag kommt - auch wenn der „sozialistische Staat deutscher Nation“ lediglich vier Jahrzehnte Bestand hatte und nicht mehr als eine Fußnote in der Weltgeschichte war - insgesamt zu kurz. Nichts gegen Hans Joachim Schädlich und Hartmut Lange, aber daß repräsentative Autoren wie Stefan Heym mit Collin, Hermann Kant mit Die Aula, Erik Neutsch mit Spur der Steine, Brigitte Reimann mit Franziska Linkerhand oder Erwin Strittmatter mit Ole Bienkop nicht einmal im Namensverzeichnis, geschweige denn in Analysen auftauchen, scheint kein Zufall, sondern Folge eines - in diesem speziellen Punkt leider einseitigen - Konzepts zu sein. Die Kernsätze auf Seite 170 - „Die Deutsche Demokratische Republik besitzt ein ideologisches Staatsprogramm: sogar in den Bereichen der Kunst und Literatur. Damit wurde der Konflikt mit ihren Künstlern und Schriftstellern unvermeidbar“ - sind, wie immer man sie dreht, zu verbal und undifferenziert, entsprechen auch nicht in jedem Fall den historischen Gegebenheiten. Sie negieren - ob das Hans Mayer will oder nicht - spezifische ästhetische Gegenstände und Eigenheiten der ehemaligen DDR-Literatur, auch Autoren, die bis zuletzt für eine sozialistische Alternative zur kapitalistischen Bundesrepublik eintraten. Ich bin nach wie vor der Ansicht, daß ein volkseigenes Arbeiter-Unikum wie Balla im Dreiecksverhältnis mit Horrath und Kati weder bei Hoechst noch Bayer Leverkusen möglich wäre, und auch Ole Bienkop mit seiner „Partei“ Frieda Simson könnte weder in Bayern noch in Niedersachsen über die Felder ziehen. Sie entstammten eben dem spezifischen gesellschaftlichen Milieu der DDR und fanden Schriftsteller, die sie ästhetisch adäquat zu gestalten wußten. Selbst Stefan Heym, der wahrlich genug mit der SED-Herrschaft kollidierte und mit Collin den wohl brisantesten DDR-Roman schrieb - ein Buch, das nicht einmal in einem ostdeutschen Verlag erscheinen durfte-, plädierte noch während der politischen Wende 1989/90 in seiner Rede auf dem Alexanderplatz für eine bessere DDR „als Gegengewicht gegen die Daimler-Messerschmitt-Bölkow-Blohm-BASF-Hoechst-Deutsche-Bank-Republik auf der anderen Seite der Elbe: notwendig ist ein sozialistischer Staat auf deutschem Boden, der seinen Bürgern wahre Freiheit und alle Rechte garantiert“, argumentierte er. Eine differenzierte, überzeugende Darstellung genau dieser Seiten aber fehlt - trotz einiger Denkansätze bei Werkanalysen von Peter Hacks, Heiner Müller oder Christa Wolf - im Buch von Hans Mayer allzu sehr.

Zweitens geht in der Charakteristik von Wolf Biermann (S. 241 ff., S. 407 ff.) der ansonsten so bestechende Zusammenhang von Literatur und Politik eigenartigerweise fast völlig verloren - die Tatsache nämlich, daß die „Biermann-Affäre“ nicht nur Protest eines Sängers in der Villon-Nachfolge, sondern - ausgelöst durch einen „Bochumer Appell“, den auch führende SPD-Politiker unterzeichneten, und potenziert durch das berühmte Kölner Konzert im November 1976 - auch gezielte politische Aktion gegen die DDR war. Wie schrieb doch damals, am 24. November 1976, die in solchen Fällen zumeist gut informierte „FAZ“ über das „Lieder-Echo aus dem Untergrund“? „Hier ist die Wurzel des Falles Biermann. Er hat sich als Kristallisationspunkt, als Katalysator erwiesen. Es geht nicht so sehr um seine ketzerischen Gesänge und nicht um die genaue Zahl beifallspendender Intellektueller, die drüben wie hüben zur Selbstüberschätzung neigen. Es geht um die Frage der Macht.“ Ausgerechnet das sollte der sonst so peinlich genaue Hans Mayer übersehen haben?

Schließlich hat Hans Mayer in seiner Literaturbetrachtung und Literaturanalyse alles das, was der Begriff „Massenliteratur“ benennt, vollständig ausgeklammert. Nicht umsonst aber beansprucht ein Heinz Günther Konsalik für sich den Ruhm, der auflagenstärkste und meistgelesene Schriftsteller der Bundesrepublik Deutschland zu sein. Kann man Literatur dieser Art heute noch außer acht lassen, wenn es um „Die neuen Bücher und Leser“ oder - um eine andere Überschrift aus dem Buch von Hans Mayer zu zitieren - „Masse und Macht“ geht? Die Amerikaner, Briten und Franzosen geben sich da offener für Massenliteratur-Erscheinungen und Bestseller-Autoren à la Rosamunde Pilcher.

Ansonsten mußte ich nach Abschluß der Lektüre von Hans Mayers Buch lediglich eines bedauern: daß es schon 1985 endet und nicht erst 1995. Der ehemalige Leipzig-Tübinger Literaturprofessor, geistig rege wie eh und je, wäre doch gewiß der richtige Mann, das Wichtigste über die „wiedervereinte deutsche Literatur“ zu sagen. Aber vielleicht macht er’s noch.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite