Eine Rezension von Helmut Hirsch


Eine mikro- und makrokosmische Natur-Sinfonie für Spaziergänger

Garten und Wildnis
Landschaft im 18. Jahrhundert.

Herausgegeben von Hansjörg Küster und Ulf Küster.

C. H. Beck’sche Verlagsanstalt, München 1997, 366 S.

 

Ein Buch, in dem ein kleiner und ein großer Kosmos unterschiedlichster Stimmen erscheint, Stimmen zur Natur, aus der Natur, darf - zumal es mit dem Kapitel „Ouvertüre“ eröffnet und mit dem Kapitel „Finale“ beschlossen wird - Sinfonie genannt werden. Dabei geht es fast gar nicht um Musik, jedenfalls ist keine einzige Note abgedruckt. Geheimnisse etwa? Ja, und die liegen hier in der Luft, streifen die Erde, durchziehen Landschaft, klein, wild, weit und vielstimmig tönend. Daß Texte Geräusche wahrnehmbar machen können, haben empfindsame Leser zu allen Zeiten empfunden. Dazwischen aber herrscht auch Stille, Stille für Augen-Blicke, die dem Wanderer, dem Spaziergänger geschenkt werden.

Garten und Wildnis nennen die Brüder Küster ihre Anthologie. Die Landschaft im 18. Jahrhundert wird aus der Sicht der Dichter, Wanderer, Ökonomen und Naturwissenschaftler vorgestellt. Daß ein Naturwissenschaftler (Hansjörg Küster) und ein Kunsthistoriker (Ulf Küster) über dieses Thema Texte zusammengetragen haben, schließt von vornherein aus, daß ästhetische Erfahrung und wissenschaftlicher Umgang als zwei konträre Bereiche dargestellt werden. Im 18. Jahrhundert waren das noch zusammengehörende Welten.

Die „Sinfonie“ kennt Hauptstufen, sie beginnen in der Wildnis, streifen durch verschiedene Landschaften (Gebirge und Niederungen), durcheilen Park und Garten als Kulturlandschaft, probieren Ausflüge in ferne oder phantastische Gefilde. Allein die „Ouvertüre“ verdient längere Betrachtung, ausgiebiges Zuhören. Mit Friedrich Gottlieb Klopstock beginnt das turbulente Treiben der Naturkräfte, eine rauschende Ode an die Naturereignisse, Schöpfungsfreude überall. Vom Ozean zum Frühlingswürmchen, von Wucht und Gewalt bis zu Stille, Entstehen und Vergehn, im Erlebnis des Ur-Augenblicks. Klopstock ruft den Schöpfer all dieser Herrlichkeiten an, er will ein Gegenüber, von dem alles auszugehen scheint, ansprechen. Auf der Bühne der Wunder stehend, ruft der Dichter durch sein Ich: „Hier steh ich. / Rund um mich ist alles Allmacht! / Ist alles Wunder! / Mit tiefer Ehrfurcht, / Schau ich die Schöpfung an! / Denn du! / Namenloser, du! / Erschufst sie!“ Die Ode schließt mit dem Wunder des Regens.

Der zweite Beitrag der „Ouvertüre“ wendet sich an die Liebhaber der natürlichen Wissenschaften. In einem „Einladungsbrief zu Erforschung natürlicher Wunder, so sich im Schweizerland befinden“, listet Johann Jakob Scheuchzer einen Fragen-Katalog mit 189 Nummern auf. Das sind ungezählte Einladungen, die Welt im Innersten und im Äußersten kennenzulernen. Wie schwer die Luft wohl sei, wie hell, dünn oder dick? „Ob Ungewitter können entstehen aus Einwerfung der Steine in die Windlöcher, Klüften oder See?“ Jede Erscheinung, die noch ungeklärt ist, wird aufgenommen, der sorgsamen Prüfung empfohlen. Schwefelregen und Erdbeben, Mehltau oder Lawinen, und die Fragen selbst sind voller Forscherfreude, die Vergnügen und Wissenwollen in einer natürlichen Einheit begreifen: „Ob nicht unterweilen der Himmel gleichsam sich öffne oder zerteile (chasmata), und was dieser Geschicht vor- und nachgehe?“

Berge, Schnee und Eis, vom Wasser immer wieder in allen Zuständen ist die Rede, denn wir sind in der Schweiz. Alle Sinne sind angesprochen, und im Land der Berge muß auch die Frage gestellt werden: „Ob es auch Leut gebe von ungemeiner Riesenstärke und Größe?“ Nach Frucht- und Unfruchtbarkeit wird gefragt, ganz merkantilische Interessen schimmern durch. Ob Ochsen, Kühe und Kälber „an Größe, Stärke, Geschmack, Zärte des Fleisches unterschieden nach Beschaffenheit der Orten, da sie weiden“? Von Milch und Honig, vom Fisch und von den edlen Gesteinen handelt diese endlose Natur-Kartei. Hier wird dem Donner getrotzt, der Welt abgerungen, was dem Menschen zugute kommen kann. Zwischendurch auch Zweifel, Fragen nach der Phantastik in der Natur, die Furcht auch vor dem Übergroßen, vor der Gefahr: „Ob es auch geflügelte Drachen gebe, mit oder ohne Füß, von was vor Größe, Farb und Gestalt sie seien, schüpficht oder knopficht, was sie dem Menschen oder Vieh vor Schaden zufügen mit Wegstehlung der Milch etc.?“

Diese „Ouvertüre“ hat es in sich. Im Anschluß an diese teils naiven, teils wunderlich-neugierigen, stets aber dem anwendbaren Wissen um die Kräfte der Natur verpflichteten Fragen meldet sich der Poet (und Arzt) Albrecht von Haller zu Wort. „Die Alpen“ dürfen in keiner Anthologie fehlen, in der die Fülle der ,Naturereignisse so prächtig, so gewaltig schwingend auf den Menschen eindringt. Die Alpen, das überraschende, aufragende Naturphänomen des 18. Jahrhunderts. Für Forscher und Reisende das große, daß großartige „Hindernis“ auf dem Weg der „Grand Tour“ in Richtung Italien. Den Schluß dieser „Ouvertüre“ besetzt ein Text von Georges Louis Leclerc Comte de Buffon und Georg Forster: „Ein Blick in das Ganze der Natur“. Noch einmal ausfüllend leidenschaftliches Erleben und euphorische Beschreibung der allgewaltigen Natur. Ein Loblied auf die Allmacht und Allgegenwart des Schöpfers, dessen Abbild der Mensch ist. Der nun verharrt nicht in betrachtender Geste, „er selbst verschönert die Natur; er bauet, erweitert und verfeinert sie“. Mit diesem Programm ist der Ton gefunden, das Thema intensiv eröffnet, der Leser weiß oder ahnt, worum es des weiteren in diesem Buch gehen wird. Der Gang durch die Gärten, Streifzüge durch wilde und kultivierte Landschaften. Von den Freuden des Gärtners berichtet Christoph Martin Wieland in einem Brief an Merck vom 12. 4. 1778. Wir sehen den Dichter umherschlendern, Tag und Nacht, jede Veränderung des Gartens im Blick, sich freuend „an dem ewigen Leben der Natur - und begucke des Tags wohl zwanzigmal meine vor anderthalb Jahren gesetzten jungen Bäume, an denen ich jede Knospe so gut als meine eigene Nase kenne ...“

Wir lesen von blühenden Pfirsichen, Aprikosen, von Kräutern im Küchengarten, von der sachlichen Einteilung der Pflanzen durch Carl von Linné. Und da wir in einem komponierten Querschnitt sind, folgt sogleich auch eine Kritik an Linnés System.

Die Abteilung „Im Park“ fällt dem Umfang nach etwas schmal aus. Joseph Addison, Wegbereiter des englischen Gartenstils, gibt die Hintergründe seines Denkens an. „Die artigste Landschaft“, notierte er vieldeutig, „welche ich jemals gesehen, war eine Zeichnung an den Wänden eines dunklen Zimmers, welches an der einen Seite einem schiffbaren Flusse und an der anderen einem Tiergarten entgegen stund.“ Erlebnismäßige Eindrücke können Theorien bilden, in diesem Falle eine schöpferische Lawine losbrechen lassen, die die Gartenkunst in ganz Europa verändert. Und es klingt plausibel, wenn Addison sagt, „daß die Werke der Natur um desto angenehmer sind, je mehr sie den Werken der Kunst gleichen“.

Christian Cay Lorenz Hirschfeld gilt als der maßgebliche deutsche Theoretiker des Landschaftsgartens im 18. Jahrhundert. Als Grundregel formuliert er: „Bewege durch den Garten stark die Einbildungskraft und die Empfindung, stärker als eine bloß natürlich schöne Gegend bewegen kann.“ Die natürliche Schönheit der Landschaft herbeirufen: ein schönes Bild, zugleich eine Aufforderung für Gartenfreunde, Wanderer, Flaneure.

Wer den Wegen der Herausgeber folgt, lernt viel kennen. Auch die Einsicht, daß die Natur sich keine Fesseln anlegen läßt. Der Gang durchs gestaltete Grün enthält auch die Warnung vor Ehrgeiz und Zerstörung. Der Blick in die Parklandschaft des 18. Jahrhunderts ist freilich nicht übermäßig ergiebig, nur Hohenheim und Wörlitz gelten als Beispiele genauer Ortsbeschreibungen.

Noch länger würde der Spaziergänger im Park verweilen, da führen ihn die Herausgeber schon wieder aufs Land. Dort hört er von Mangeljahren, folgt einer Betrachtung über „Erdäpfel“, wird in die „Beurbarung der Hutweiden“ und in die Kultivierung des Havelländischen eingeführt. Es wird gepflügt, geackert, gesät, geerntet. Tätigkeiten ohne Ende, aber mit viel Sinn für Erprobung und Erschließung. Auch König Friedrich II. befindet sich auf Inspektionsreise im Rhinluch. Im Sommer 1779 durchreist er Orte und Landschaft, unterwegs stellt er Fragen, erhält Antworten in Fülle. Der König fragt nach Vorfahren, Viehseuchen, Verbesserungen, nach Ernteerträgen und Gewinnen. Ein Regent, der wußte, was es zu fragen gab, und der noch viel mehr im Sumpfgebiet nordwestlich von Potsdam urbar zu machen gedachte.

Immer wieder Landwirtschaftliches, über die Unsicherheit der Lagebestimmungen, Bodenkarten, Höhenbestimmungen der Berge. Es ist nicht zu übersehen, der Naturwissenschaftler steuert zu diesem Band weit mehr bei als der Kunsthistoriker. Man kann diesem Eindruck entgegenlesen, indem man nicht chronologisch dieses Lesebuch entdeckt. Spaziergänge können begonnen und wieder abgebrochen werden. War man eben noch mit König Friedrich unterwegs, bringt die Lesereise den Neugierigen schon auf der nächsten Seite (im Kapitel „In der Ferne“) nach Tahiti. Georg Forster berichtet von seiner exotischen Reise, sehr lebendig, anschaulich und akribisch. Daß nun auch noch Defoes Robinson als Landwirt erscheint, ist sicher zuviel des Guten. Und den märkischen, den allzu märkischen Dichter und Pfarrer Schmidt von Werneuchen hätte man nicht unbedingt mit seiner Phantasie „An die Bewohner der Freundschaftsinseln“ vorstellen müssen. Da wird die Auswahl zufällig, peripher. Auch ist nicht ganz nachzuvollziehen, warum nach einem Reise-Kapitel „In der Ferne“ bald Italienreisen folgen, die im Kapitel „In Arkadien“ stehen und vor allem Rom und Neapel im Blick haben.

Die Sinfonie Garten und Wildnis fordert dem Hörer/Leser viel ab. Waren wir eben noch mit Wilhelm Heinse am Vesuv („Er sieht aus, wie ein Wesen, das sich selbst gemacht hat.“), führt uns derselbe Wanderer und Naturschilderer im nächsten Kapitel an den Rheinfall. Dann zeigt uns Goethe während seiner Reise in die Schweiz „Versuche, Natureindrücke in Worte zu übersetzen“. Und muß denn, nachdem aus Schillers „Wilhelm Tell“ eine Szene dargeboten wurde, in der Kuhglocken tönen und dumpfes Krachen von den Bergen das Bild der Landschaft verändert, noch ein Kapitel „Im Wald“ sein? Ja, sagt der Naturwissenschaftler, denn Waldwege sind Holzwege, und so Gelegenheit über Holzverderb, Försterarbeit, Holzmangel und Baumpflege referieren zu lassen. Da gibt es, der Leser staunt, nicht nur Anleitungen, Theorien, Einsichten und Transportwege, auch „der bedrohliche Mangel an Brennstoff“ wird dargestellt. Und da dies alles der beschlagene Georg Forster tut, wird zugleich von den Todsünden der Menschheit im 18. Jahrhundert, vom drohenden Untergang gesprochen. Doch weiß der kundige und streitbare Jakobiner, daß mindestens „tausend Jahre“ vergehen müssen, um all das Räderwerk der Mißverhältnisse in eine Revolution münden zu sehen.

Im „Finale“ wird noch einmal vor schwerwiegenden Folgen gewarnt. Thomas Robert Malthus spricht eindringlich vom „Bevölkerungsgesetz“ und dessen verheerenden Auswirkungen. Er warnt vor Naturkatastrophen, Elend und Laster. Ob Alexander von Humboldts „Entwurf einer Geographie der Pflanzen“, dieser Warnung folgend, tatsächlich einen gewichtigen Akzent zum Schluß dieser Anthologie setzt, ist zu bezweifeln. Um allen Zweifeln doch noch ein großes szenisches Bild entgegenzuhalten, wird mit Schillers „Spaziergang“ das Schlußlicht dieser zweiten und spannenden Sammlung gegeben.

Die Herausgeber räumen im Nachwort ein, daß die Texte auch austauschbar wären. Kein Zweifel, Gellerts Text „Vom Lande“ hätte hier auch stehen können. Der Überfrachtung durch ökonomisch-naturwissenschaftliche Texte hätte man mit literarischen Beispielen hier und da Einhalt gebieten können.

Auch gibt es kleinere Ungereimtheiten. Klopstocks Beitrag „Das Landleben“ ist als Titel eine Willkür der Herausgeber. Es handelt sich hierbei um „Die Frühlingsfeier“, die auch in der Erstveröffentlichung nur unter dem Titel „Eine Ode über die ernsthaften Vergnügungen des Landlebens“ erschien. Auch hätte eine knappe Kommentierung der Texte dem Buch mehr Weite gegeben. Die Lebensdaten der vielen, weitgehend unbekannten Verfasser von Beiträgen fehlen, auch gibt es im Quellenverzeichnis Ungereimtheiten über Verlage und Verlagsorte.

Dennoch ein gutes Lesebuch, eins, das man immer wieder zur Hand nehmen kann, weil man immer wieder eine neue, unbekannte Seite im Kosmos, der Garten und Wildnis heißt, entdecken kann.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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