Eine Rezension von Friedrich Schimmel


Ein Literaturstreit oder Hunde und Bücher

Danilo Kiš: Anatomiestunde

Aus dem Serbokroatischen von Katharina Wolf-Grießhaber.

Carl Hanser Verlag, München 1998, 375 S.

 

Ein Buch aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Aber es wäre auch im siebzehnten denkbar gewesen. Schon der Umschlag deutet es mit Bild und Titel an: Eine Anatomiestunde wird erzählt, und es gehörte zu den Intentionen des Autors Danilo Kiš, dabei an Rembrandts Bild „Anatomische Vorlesung des D. Nicolaes Tulp“ von 1632 zu denken. Danilo Kiš, geboren 1935 in Subotica, starb 1989 in Paris. Auch die Titel seiner anderen Bücher signalisieren Sezier- und Leidensfragen. Enzyklopädie der Toten, Frühe Leiden, Sanduhr oder der nachgelassene Erzählband Der Heimatlose. Das Bild Rembrandts zeigt, wie Tulp unter dem gebannten Blick seiner Studenten und Kollegen gerade die Hand eines Toten (einem Bildnis von Christus sehr ähnlich) seziert. Danilo Kiš überträgt den Sinn dieses Bildes auf einen ganz anderen Bereich, er hatte einen „anatomischen Schnitt durch das moralische und literarische Profil“ der jugoslawischen Cosa Nostra vor Augen. Was war geschehen? 1976 hatte Kiš sein Buch Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch veröffentlicht und damit den größten Literaturstreit in der Geschichte Jugoslawiens ausgelöst. Kritiker, Kollegen, Politiker und auch Leser hatten daraufhin eine makabere Hetzkampagne gegen das Buch und seinen Autor betrieben. Als es vorbei war, beginnt Kiš dieses Buch im Exil, das die skandalöse Chronik jener Hetzkampagne in allen Einzelheiten beschreibt. Mit einem gewissen Aufatmen beschreibt er die Einführung der Anatomiestunde, die nun hinter ihm liegt wie ein „Provinzschabbes; die Fenster sind erneut im Dunkel, die Vorhänge vorgezogen, die Hunde verstummt, und auf den Plätzen wendet der Wind altes Zeitungspapier, das letzte Zeugnis dieser Walpurgisnacht, dieses literarischen Hexensabbats“.

Ein Zustand, der einen Schriftsteller dazu bringt, ausgiebig über sein Buch zu schreiben, um alle Angriffe abzuwehren, ist zwiespältig. Wird es eine Rechtfertigung oder steckt mehr drin? 1978 schlagen die Wellen hoch. Danilo Kiš wird als Plagiator verhöhnt, wüst beschimpft und mit Schande bedeckt. Die Kritiker verbissen sich in das Buch und seinen Autor wie Hunde in ein Wildbret. Abgeschrieben habe er sein Buch, und die Affäre geht bis ans Gericht. Das ihn zwar freispricht, ihm monatelang aber keine Möglichkeit gibt, seinen Standpunkt öffentlich vorzubringen, im abgekarteten Spiel der feudalkommunistischen Zensoren. Unter dem Vorwand ästhetischer Kritik wurde obskure politische Kritik geübt. Die Gründe waren damals einsehbar, für Diktatoren geradezu selbstverständlich, denn Kiš kritisierte seinerseits nicht minder heftig in dem Buch Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch den Stalinismus und den jugoslawischen Nationalismus. Später wurde seine Anatomiestunde zu einem Kultbuch, ein Dokument der Zeit und der Erlebnisse eines Autors in dieser Zeit. Anatomiestunde ist ein Pamphlet und eine essayistische Studie zugleich, brillant und genau, persönlich und zeitkritisch, ernsthafte Kritik: „Denn beim heutigen Stand unserer Literaturkritik und unserer Literaturtheorie - einem Stand, der keinerlei Besserung verspricht - ist es durchaus keine Laune, literaturtheoretisch über seine Bücher zu sprechen, sondern eine Notwendigkeit. Letztendlich ist alles, was dem Schriftsteller zustößt, das Böse und das Gute, ein Teil seines literarischen Schicksals.“ (Danilo Kiš)

Es ging aber in diesem großen Streit bereits um das Brodeln im Staate Jugoslawien. Kiš, der den Nationalismus in den siebziger Jahren als eine „kollektive und individuelle Paranoia“ beschrieb, nahm den Wahnsinn des Krieges vorweg. Vielleicht war das der Stachel, der die Kritiker stach, Zündstoff für die nationalen Gruppen. Ertönen erst einmal die „nationalistischen Posaunen“, dann „muß man sich für ein Volk, für eine Provinz entscheiden und deutlich erklären, ob du zu uns gehörst oder zu ihnen“.

Erst hetzt man Hunde auf Bücher, dann Menschen auf Menschen. Für Danilo Kiš blieb es aber zeitlebens auch dabei, das „Schreiben ist ein alchimistischer Prozeß“, eine „Transmutation“ oder eine „Anatomiestunde“, in der nicht nur die windige Meute literaturpolitischer Diktatoren bloßgestellt wird, sondern zugleich, im alchimistischen Denk- und Schreibprozeß, Wirkungsweisen eigener Sprachmodelle und überhaupt die ästhetischen Methoden der Moderne, der Kiš anhing, untersucht werden. Die Hunde bellen, und die Karawane zieht weiter, diese Sequenz setzt Kiš unter das kleine Kapitel „Hunde und Bücher“, denn er weiß, daß er seine Gegner bis auf die Knochen blamiert hat, weit über den Tag hinaus. Auch weiß er von deren Vorhaben, von denen eines gegen ihn gerichtet hieß: „Entfernung aus der Gesellschaft“.

Danilo Kiš setzt Warnzeichen. Eines heißt, Vorsicht vor einer sogenannten „objektiven Sicht“ auf die Literatur, das andere: Vorsicht vor allen Spielarten des Nationalismus. Poesie und Politik, politische Poesie und Politkitsch, auch davon handelt dieses Buch, eine anregende „Anatomiestunde“ auch noch fürs nächste Jahrhundert.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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