Eine Rezension von Karl Friedrich


Geht an Bord!

Christine Keitz: Reisen als Leitbild
Die Entstehung des modernen Massentourismus in Deutschland.

Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1997, 370 S.

 

Wer nie mit seinem schweren Koffer durch vollgepfropfte Wagengänge wankte, weiß nicht, wie schön verreisen ist. Das ganze Jahr wird gearbeitet, gespart, gewartet und geträumt von Bergen, Seen und Sonne. Weit weg oder nur hundert Kilometer, mit dem Bus, mit der Bahn oder mit dem Flieger: Urlaub muß sein, denn Urlaub machen alle. Alle? Ziemlich viele, auf jeden Fall zu viele. Das hat auch die Herausgeberin dieses materialreichen Bandes erfahren müssen. Aber sie stimmt kein Klagelied an, sie sammelt, was es alles zur Geschichte des modernen Massentourismus zu sagen gibt. Man kann, hier wird’s anschaulich und eindringlich nachvollziehbar gemacht, auch sachlich über ganz heiße Eisen nachdenken.

In den siebziger, achtziger Jahren östlich der Elbe noch ganz unvorstellbar, was ein Sonderprospekt des Reichsausschusses für sozialistische Bildungsarbeit 1931 auf ein Plakat setzen ließ. Den Schlot eines übergroßen Reisedampfers und das Motto: Geht an Bord. Mehr noch als Schlot und Dampf hätten in jenen erwähnten Jahrzehnten die Namen auf dem Plakat Dampf machen können: „Wir fahren nach Paris und London, Wien und Budapest, Venedig und Ragusa, Marseille und Nizza, nach Genf und Lugano.“ Inzwischen längst abgehakt. Klar doch, einmal ist keine Reisezeit, dann wieder ist Reisezeit für alle (die wollen und können) wie einst und damals. Was nun die sozialistische Bildungsarbeit auf dem Plakat von 1931 betrifft, da hat die Herausgeberin ein bißchen recherchiert. Teilnahmeberechtigt war seinerzeit „jeder freigewerkschaftlich oder politisch organisierte Arbeiter oder Angestellte, mit Frau und Kind natürlich“.

Nicht genug, es wurde auch versprochen, daß darüber hinaus auch „jeder andere“ sich beteiligen konnte. Die Reiseveranstalter damals vermuteten, daß kaum ein Arbeiter die Kosten von 100 Reichsmark auf einmal zahlen könnte, und boten nach einer Anzahlung von 5 Reichsmark eine Zahlung in Monatsraten zu 12 Reichsmark an. Der Transport erfolgte im Sonderzug, Unterkunft und Verpflegung wurde mit Hilfe befreundeter Arbeiterorganisationen beschafft. Der Erfolg war übrigens groß.

Die Geschichte des modernen Massentourismus beginnt schon in den zwanziger Jahren. Der Fremdenverkehr wurde zum Wirtschaftsfaktor, wer Arbeit hatte, hatte auch Geld für eine Reise, nur erschwinglich mußte sie sein. Und das ist und bleibt ein Ur-Baustein dieses Phänomens: Wer in der Masse reist, reist immer billiger bis ganz billig. Die Folgen, so es welche gibt, trägt nicht selten der Nutzer. Und je mehr der Mensch Urlaub und noch ein bißchen Geld dazubekam, um so mehr dachte er ans Reisen. Das war dann in den sechziger Jahren in Westdeutschland der Fall. Zeitweise schlossen sich auch, halblegal und oft sehr abenteuerlich, Leute aus dem Osten an. Dann war’s vorbei, und nun quillt der Massentourismus aus allen deutschen Landen hinaus in die Ferne.

„Arbeiterurlaub“ war eine soziale Errungenschaft der Weimarer Republik. Die Grundvoraussetzung für Tourismus. Allerdings markiert dies auch einen Wandel im Geschäft. Zu den vielen Materialien, die die Herausgeberin hier zusammengetragen hat, gehören viele recht überraschende Zeit-Momente. In einer Münchner Zeitung vom Sommer 1925 teilt ein Hotelbesitzer aus Partenkirchen mit, „daß das Fremdenverkehrsgewerbe in diesem Jahr ein sehr bescheidenes Geschäft gezeitigt“ hätte. Und er fährt fort, daß eine „andere Schicht von neuen Touristen, die man früher nicht kannte, die Angestellten und Arbeiter der Industrie“, der Saison das Gepräge gäben. Noch bedauert der arme Mann, daß die „bessergestellten Kreise“ ausgeblieben seien, während selbst der einfache Mann bis in die Schweiz oder nach Italien gereist sei. Und er resümiert mit einem Satz, der nun wieder recht trefflich für alle Zeiten Gültigkeit besitzt: „Überall Masse, wenig Qualität“.

Mode, Konsum und soziale Flexibilität haben indessen dafür gesorgt, daß in vielen Bereichen des Massentourismus nicht mehr oder nicht so leicht festgestellt werden kann, wer, warum, woher und wieso verreist. Denn Masseneffekte haben eine einschmelzende, eine über soziale Grenzen hinausreichende Gleichmacherei an sich. Der Alltag vermischt, das Reisen vermischt. Das ist kein Nachteil, auch gibt es ja arme Leute, die sich als Reisende aufpeppen, gleichzeitig gibt es den als armen Globetrotter reisenden Millionär, der sich unters Volk diesseits und jenseits der Grenzen zu mischen vermag. Viele Phänomene lassen sich erst durch Statistiken sichtbar machen. So auch in dieser Darstellung. Auf über 30 Seiten hat Christine Keitz im Anhang solche spannenden, aufschlußreichen Tabellen und Graphiken mitgeteilt. Und so langweilig Statistiken zumeist auch sein mögen, hier wird es richtig anschaulich-unterhaltend. Wer zum Beispiel wissen will, wie in der badischen Lederindustrie die Urlaubsentwicklung von 1919 bis 1960 vorankam, der kann es hier erfahren. Nur dieses eine Beispiel könnte schon herhalten für die Illustration des Slogans „Die Deutschen sind Weltmeister im Reisen“. Interessant schon deswegen, weil mit dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1954 in der Schweiz der Startschuß zum Weltmeistersein im Massentourismus gegeben worden sein muß.

Was bietet dieser Band noch? Einblicke in das einst so beliebte, billige und später in Verruf geratene Reisen „Kraft durch Freude“. Wer es nicht erlebt hat, kann anhand der Abbildungen, der Tabellen und des Textes (immer sachlich, analytisch, kritisch) nachvollziehen, was dran war am großen Reiserummel der Nationalsozialisten. Das Amt „Reisen, Wandern, Urlaub“ (RWU), so der Veranstalter dieses Reise-Molochs, war 1937 fast aus dem Stand zum zweitgrößten Reiseunternehmen nach dem „Mitteleuropäischen Reisebüro“ aufgestiegen. Mit Erstaunen liest man, was die Herausgeberin zu vermelden hat: KdF konnte „mit einem Polizei- und Unterdrückungsapparat im Rücken in einem Tourismusgewerbe, das in der Folge der Weltwirtschaftskrise zum Handel mit Niedrigstpreisen gezwungen war, außergewöhnliche Dumpingpreise durchsetzen. Verlangt wurde nur die Hälfte dessen, was die Reiseveranstalter in der Weimarer Republik angeboten hatten. Daß die Gestapo über KdF-Reisen regelmäßige Berichte anfertigte, ist nicht sensationell. Daß dies geschah, kann heutzutage kaum noch verwundern. So wurde diese Reiseart von den Spitzelberichterstattern als anerkennenswerte Maßnahme „insbesondere für den Arbeiter“ hingestellt, dabei aber vollkommen unterschlagen, daß, wie die Statistiken besagen, in der Regel nur sehr wenige Arbeiter mitgereist waren.

Wo immer man eine neue Seite in diesem Buch aufschlägt, hier wird stets eine kritische und sachkundige Studie über das Reisen entworfen, die reich informiert, spannend unterhält und die Lust am Reisen auch als eine Geschichte der Unlust dingfest macht. Nie aber demjenigen die Reisefreude nimmt, der schon die nächste Reise gebucht hat.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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