Eine Rezension von Horst Wagner


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Die DDR - eine arbeiterliche Gesellschaft?

 

Wolfgang Engler: Die Ostdeutschen
Kunde von einem verlorenen Land.

Aufbau-Verlag, Berlin 1999, 348 S.

 

 

Denjenigen, für die der „Ossi“ immer noch das unbekannte und unbedarfte Wesen ist, dem sie glauben erst einmal erzählen zu müssen, wie er gelebt hat, sollte dieses Buch als Pflichtlektüre gelten. Aber auch dem gelernten DDR-Bürger bietet es neue Einsichten und sogar Aha-Effekte. Dem einen oder anderen wird er widersprechen wollen, weil er im einzelnen da vielleicht andere Erfahrungen gemacht oder zu anderen Schlüssen gelangt ist. Aber dem Gesamteindruck wird er zustimmen können: Endlich einmal ein DDR-Bild, nicht von oben oder von außerhalb, sondern sozusagen von innen heraus, mit Erfahrung, Herz und viel Verstand geschrieben. Wolfgang Engler, Jahrgang 1952, Soziologe und Lehrer an der Schauspielschule „Ernst Busch“ in Berlin, lenkt seinen Blick nicht so sehr auf die Herrschaftsstrukturen der DDR, liefert aber auch nicht in erster Linie eine bloße Beschreibung des Alltagslebens. Sein Hauptgegenstand ist vielmehr das Wechselverhältnis von „oben“ und „unten“, man könnte auch sagen von politischem System und dem, was man heute Zivilgesellschaft nennt. Er beschreibt, wie Arbeiter, Angestellte, Intellektuelle, Künstler, Männer wie Frauen natürlich, das von „oben“ Vorgegebene reflektierten, aufnahmen oder ablehnten, sich ihren eigenen Sinn darauf machten und so ihre ostdeutsche Identität entwickelten.

Interessant, aber vielleicht auch ein Reibungspunkt, ist seine Einteilung des DDR-Geschehens nach drei politischen Generationen. Zur ersten rechnet er die zwischen 1876 (Wilhelm Pieck) und 1914 (Walter Janka) Geborenen, bei denen er die „Funktionäre“ und die „Partisanen“ unterscheidet. Die zweite, mit dem Kern der um 1930 Geborenen, nennt er die eigentliche Aufbau-Generation, die „die spätvierziger und frühen fünfziger Jahre als einen grandiosen kollektiven Bildungsroman“ erlebte. (S. 321) Die dritte, in die DDR hineingeborene Generation sieht er als die kritischere, die Aufbruch-Generation. Gerade „weil das soziale Leben abgesichert war“, habe sie „mit ungewohnten Gedanken, mit offeneren, spontaneren Lebensformen“ experimentiert. „Und genau das mißfiel parteistaatlicherseits.“ (S. 61) Eingangs reflektiert Engler anhand von Schüleraufsätzen von 1946 und anderen Erlebnisschilderungen vom „Einmarsch der Russen“, das Schwanken zwischen Angst und Hoffnung bei den Ostdeutschen nach dem Krieg. In den beiden folgenden Kapiteln setzt er sich mit Licht- und Schattenseiten des DDR-Städtebaus und seiner Annahme durch die Bewohner auseinander: von den ersten Bauten der Stalinallee bis zum Palast der Republik, in dem „der Staat der kleinen Leute Realität geworden“ sei. „Der ,Palast‘ war die erträumte DDR.“ (S. 73) Im mit „Krise und Engagement“ überschriebenen Kapitel untersucht er den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 und die unterdrückten Reformbestrebungen von 1956 (Behrens, Bloch, Harich, Janka u.a.), wobei er als Ursache ihres Scheiterns sieht, daß 1953 die Arbeiter, 1956 die Intellektuellen isoliert handelten.

Für die beiden folgenden Kapitel setzen das 11. Plenum 1965 und die Biermann-Ausbürgerung 1976 die Zeitmarken, wobei der Autor meiner Meinung nach das (Anti-)Kulturplenum mit einem Satz wie „Am 15. Dezember 1965 entschied sich das Schicksal der ostdeutschen Moderne“ (S. 111) eher über-, die Folgen der Biermann-Ausbürgerung für den kulturellen und politischen Niedergang der DDR eher unterbewertet. Jedenfalls scheint mir die Charakterisierung der gegen die Ausbürgerung Protestierenden als eine Gruppe, die sich fortgesetzt selbst widerrief (S. 158) - auch beim Vergleich mit der von Manfred Krug heimlich aufgezeichneten Aussprache mit Werner Lamberz -, nicht belegt. Treffend finde ich dagegen die von Engler in diesem Zusammenhang geführte Auseinandersetzung mit dem (u.a. von Günter Gaus geprägten) Begriff der „Nischengesellschaft“ für die DDR der Honecker-Jahre. Die „Tendenz zum Rückzug ins Private, zur Individualisierung aller gesellschaftlichen Bezüge“, so Engler, habe zwar existiert, „aber sie war nicht so absolut, wie es der Terminus nahelegt ... Das Arbeitskollektiv war ein fester Bezugspunkt des persönlichen Wohlbefindens, das Gasthaus nicht minder ... Der Arbeiter stand neben dem Produktionsdirektor an der Theke und hielt mit seiner Meinung nicht zurück.“ (S. 167/68)

Zu den interessantesten Kapiteln gehört das mit der Überschrift „Eine arbeiterliche Gesellschaft“. Als solche, nicht expressis verbis als sozialistisch, definiert der Autor die ökonomische- und Sozialstruktur der DDR. Zwar hätten die Arbeiter nicht, wie von der SED-Propaganda behauptet, die politische Herrschaft ausgeübt. „Aber das soziale Zepter hielten sie in der Hand. Anschauungen, Meinungen, Konventionen, Kleidungs- und Konsumgewohnheiten und nicht zuletzt die Alltagssitten richteten sich nach den Normen und Idealen der arbeitenden Klasse.“ (S.200) Wobei Engler als wichtiges Merkmal dieser Gesellschaft sieht, daß sie jedem Arbeit garantierte, alle „arbeiten oder zu arbeiten meinen“, und gerade dadurch die Arbeiter „sich nicht nur durch gefestigtes Gruppenbewußtsein, sondern auch durch grenzenloses Selbstbewußtsein“ auszeichneten. (S.199, 202) Was neben positiven auch seine negativen Auswirkungen (Qualitätsmängel, mangelnde Dienstleistungen) gehabt habe.

Geht es in den folgenden Kapiteln um das Wechselverhältnis von DDR-Ratgeberbüchern und Alltagsleben, um die Geschlechterbeziehungen im allgemeinen und den Sex im besonderen, versucht Engler in den beiden abschließenden Gründe für das Scheitern der DDR zu bestimmen, wobei er nicht näher auf ökonomische oder außenpolitische Probleme eingeht, sondern sich auf soziale und innenpolitische Prozesse konzentriert. Gerade weil das politische Herrschaftssystem der zivilen Gesellschaft ihren einzelnen Gruppen zu wenig Selbständigkeit beließ - so könnte man Englers Gedanken zusammenfassen -, verlor es zunehmend den Einfluß auf sie. Weil schließlich in den achtziger Jahren die um Erneuerung bemühten Kräfte sich immer deutlicher in „Reformer“ (die Engler vorwiegend in der SED, im Staatsapparat, teilweise auch im MfS sieht) und „oppositionelle Aussteiger“ (hauptsächlich in kirchlichen, Umwelt- und Friedensgruppen) spalteten und sich auch im Herbst 1989 nicht zusammenfanden, geriet „die politische Initiative geradezu zwangsläufig in die Hände der ungeduldigen Mehrheit. Geistig und strategisch führungslos, wandten sich die Menschen in ihrem Vereinigungswunsch der politischen Führung der Bundesrepublik zu.“(S.339)

Zu den Vorzügen des Buches gehört, daß sich Engler nicht nur auf historische Dokumente, Aussagen von Zeitzeugen, Statistiken und (zu DDR-Zeiten meist geheim gehaltene) Umfragen stützt, sondern auch immer wieder literarische Interviews (Maxi Wander, Christine Müller), Tagebücher (Brigitte Reimann), Romane, Theaterstücke und Filme einbezieht, was die Freude am Lesen und den Erkenntnisgewinn steigert. Daß Die Ostdeutschen schnell auf Platz 2 der Sachbücher in der „Bestsellerliste Ost“ landete, ist ein Erfolg, zu dem man dem Autor nur gratulieren kann.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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