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Bernd Heimberger

Tatsache Tabori

 

Quatsch! Es ist nicht wahr, daß ich auf den Tag wie auf keinen anderen Tag gewartet habe. Daß ich mein Leben lang gewartet hätte. Mein Warten auf Tabori dauert nicht so lange, wie mein Leben dauert. Wer würde glauben, daß ich auf Tabori lebenslang gewartet habe, wie auf keinen anderen? Und warum sollte ich? Gesetzt den Fall! Weil mein Leben dem Leben Taboris verwandt ist? Mein Leben ist nicht wie das Leben des Jahrzehnte Älteren.

Tabori ist mir ein Trost. Tabori ist ein Tröster. Der Tröster hat Tränen. Nur ein Tröster mit Tränen kann ein Trost sein. Wieso ich sicher bin, daß Tabori ein Tröster mit Tränen ist? Ich weiß nicht. Wirklich nicht. Die Sicherheit muß ein sicherer Glaube sein. Glauben also an Tabori? Seit wann denn das? Seit der Zeit, von der Tabori sagt, daß es die beste Zeit gewesen ist, „die ich gehabt habe“. Die Zeit des Regisseurs Tabori. Die Zeit, in der der US- und Europabewanderte, der exilierte ungarische Jude Deutschlands Bühnen bespielte. Als Deutschlands Bühnen die Bühnen von Berlin - in Klammern West - und der Bundesrepublik Deutschland waren. In die Siebziger und Achtziger des Zwanzigsten. Die Zeit, in der das Tabori-Theater fragmentarisiert, fernsehkanalisiert in die DDR geschleust wurde und mit ihm die unvermeidlichen Tabori-Sätze, die bölltypischen, kopelewtypischen Sätze. Sie ließen die weite ganze Welt wie eine Welt von Tabori, Böll und Kopelew sein. Eine andere Welt. Die meine Welt sein könnte? Die meine Welt nicht war. Die keine Welt wirklich war und ist. Wie die Welt nur nach Willen und Vorstellung eines Regisseurs sein kann? Eines Regisseurs, der Dirigent ist! In wie vielen Sprachen hat er die Wiederholung wiederholt: „Ich bin kein richtiger Regisseur. Das ist mir aufgefallen in den letzten Jahren!“ Wann beginnen letzte Jahre, wenn einer gut in der Mitte der Achtziger steckt? Seit Jahren, den immer letzten Jahren, sagt Tabori, daß er kein Regisseur ist. Mit geschwächter, kaum schwacher Stimme legt er fest: „Theater ist Schauspielerei. Ich bin ein Spielmacher!“ Ein Spiel-Macher, der mit Schau-Spielern Schau-Spiele macht. Sagt er nicht. Nicht so genau. Weil Annäherung an Genauigkeit dem Macher des Spiels Grenzen setzt, die der Spielmacher entgrenzen will? Vielleicht ist es genau das, was Tabori meint und macht, wenn er den Weißgesichtern mit der Wahrheit kommt: „Die Schwarzen haben die Brechtstücke intuitiv immer besser verstanden!“ Weil sie das Spielerische, das Körperliche besser verstehen? Falsch, spüren. Sie spüren besser! Ein Spielmacher ist kein Analytiker. Er nimmt Gemachtes wahr und auf und gibt’s weiter. Tabori ist ein Spürer. Ein schwarzer Weißer, der wieder einmal begründet bekennt: „Ich habe geweint. Weil ich begriffen habe, daß ich so ein Theater nicht machen kann, solche Stücke nicht schreiben kann wie Brecht.“ Die Erkenntnis ist Erinnerung. Die Erkenntnis ist das Ergebnis der Begegnung mit dem Berliner Ensemble. 1968, dem Jahr der spätpubertierenden Bundesrepublik.

Der Berühmtgewordene beugt sich dem Berühmteren. Der Altgewordene dem Nichtaltgewordenen. Wie tröstlich für die Lebenden, die Über-Lebenden, die Weiter-Lebenden. Tabori sitzt aufrecht mit dem Rücken zur Wand. An diesem noch frühen Abend. An diesem windigen, widrigen, schneeigen Februartag 99. Auch an diesem Tag trieb’s die Leute zu Tabori. In diesen kleinen, kläglichen Nichtsaal-Saal des Literaturforums im Brecht-Haus. Die Leute sitzen Tabori zu Füßen. Einen ordentlichen Packen Printpolster - „Frankfurter Allgemeine“ - unterm Arsch. Die Leute hocken Tabori fast auf den Schultern, treppaufwärts. Auf der Empore des Technikers. Ein leichtes wär’s, Tabori auf den Kopf zu spucken. Wer aber spuckt schon auf Tabori? Auf einen älteren, adretten Herrn in schwarzem Tuch, schwarzen Schuhen, blau-weiß-kariertem Hemd, langlaufendem, schmalen, grauen Schal. - Warum tragen sie so gern Schal? Diese Künstler. Diese Intellektuellen. Diese intellektu-alisierten Künstler. Diese künstlerischen Intellektuellen? Nachdenken über das Damoklesschwert!

Noch muß niemand Herrn T. am Arm heran- und hereinführen. Tabori tritt leise auf. Ist zuerst mit der Nase da. Das Gesicht ist für die Nase gemacht. Mehr Nase muß nicht sein. Sonst wäre das Gesicht nur Nase. Die Augen, im Schatten schwerer Lider, sind müde? Schwer müde? Schwermütig? Wie der Anschein trügt! Müdigkeit ist, wenn der Faden des Gesprächs aus dem Gedächtnis fällt. Wenn die matte Bemerkung Brücken schlägt von du zu du: „Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich mich nicht genau erinnere. Das ist sehr lange her.“ Ein Menschenleben lang her. Als alle noch, wie Tabori milde lächelnd meint, die „vordemokratische Form“ probten. „Als alle auf dem Boden saßen!“ Auch der Brecht. In Amerika. Der später hier Quartier nahm. Zum Hof raus. Der hier besserer Hof, bester Friedhof war. Mit Hegel und Fichte darauf und darunter. Und solchen Leuten. Daß sich der B. B. dazugesellte. Gut eingeschweißt in Zink. Wenn’s stimmt! Zumindest anderthalb hundert Meter vom Platz, den Tabori im Moment hat. Mit dem Rücken zur Wand. Dahinter ging man zu Brecht durch und hinaus. Wovon Tabori nie Gebrauch gemacht hat. Er kam in Berlin an, als Brecht ein bißchen beiseite gerückt worden war.

Tabori ist kein Triumphator. Tabori genügt, berühmt zu sein wie Tabori. Tabori muß keine Trinkgelder der Gunst mehr annehmen. Mit großzügiger Geste sät er Weisheiten. Obwohl er die Hände lieber in den Taschen hält. Mehr unterhalb als oberhalb der Tischplatte. Mit kleinen Gesten wägt er. Nichts wischt er vom Tisch. Das Mienenspiel ist wichtiger als das Handspiel. Hinter der Stirn ist die Bewegung heftiger als auf der Haut. - Zuviel erwartet? Von einem Menschen, von dem man meint, er hätte alles gehabt und alles gegeben? Auch die Tränen. Wie war das doch: Nur mit dem Herzen sieht man ...? Am Herzen trägt Tabori das Fotoporträt einer Frau. Die Frau trägt eine Frisur der dreißiger Jahre. Die Herzdame gibt Tabori in dem Augenblick preis, als er sagt: „Im deutschen Theater sind am Theater das Beste die Frauen.“ Wer ist die Frau? Taboris Mutter? Flugs verschwindet das Foto in der Innentasche der Jacke. Keiner konnt’s sehen. Der Geheimnislose geht mit einem Geheimnis. Bis er geht, unsicherer als er kam, erzählt und erzählt und erzählt er. Tabori läßt sich ungern fragen. Wie alle, die nicht gut hören. Wie alle, die wissen, daß die anderen nicht so gut erzählen, wie man selbst erzählt. Das Leben ist eine Erzählung. Eine ernste Komödie. Eine heitere Tragödie. Mal, immer wieder einmal, ist alles tragischkomisch und komischtragisch. Wenn man ein Überlebender ist. Der ewige Überlebende. So einen muß man einmal leibhaftig sehen. Wie sonst glauben? Auch, daß es Tabori als Tabori gibt? Ich habe Tabori gesehen. Tatsache. Valet, liebes Warten. Und ihr Worte auch. Tabori ist eine Tatsache.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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