Eine Rezension von Friedrich Schimmel


Wenn der Sinnforscher plaudert

Jürgen August Alt: Wenn Sinn knapp wird
Über das gelingende Leben in einer entzauberten Welt.

Campus Verlag, Frankfurt/M. 1997, 211 S.

 

Was Religionen, Ideologien und Fortschrittsapostel im Laufe der verflossenen Menschheitsgeschichte immer wieder versucht haben, mittels Spruch, Peitsche oder Suggestion, es war vergeblich: Die Frage nach dem höheren oder tieferen Sinn des Lebens ließ sich nicht hinreichend beantworten. Doch der Mensch, zumeist einzeln oder in kleinen Gruppen, sucht und sucht nach einem Sinn, der im Geschehen der Natur und auch in dem der Gesellschaft liegen soll. Was bislang noch immer die Domäne der Philosophen und auch der Poeten war, kunst- oder gedankenvoll sich auf derlei Fragen einzulassen, scheint, da alles Bemühen nichts Greifbares für jeden Tag und fürs bevorstehende oder vergehende Leben gebracht hat, nun ganz den Therapeuten überlassen. Längst haben in den Buchhandlungen die Ratgeber aller Schattierungen (von Ernst bis Unsinn) die Oberhand gewonnen. Worüber der Dichter umständlich schweigt, vermag der Psychologe weitschweifend Auskunft zu erteilen. Der moderne Mensch ist der verunsicherte Mensch. Der stellt nicht so sehr die ganz „tiefen“ oder die ganz „hohen“ Fragen, weiß er doch, daß Himmel und Hölle oft schon in den vier Wänden beisammen sein können. Gefragt sind keine Projektionen, der Ratgeber soll mitteilen, wie ein Tag trotz vieler Mangel- und Gängelerscheinungen dennoch halbwegs gelingen möge.

Daß das Alltagsleben wenigstens ein bißchen gelingen möge, es ist bei vielen Leuten in nah und fern schon das Maximum des Erhofften. Der Philosoph Jürgen August Alt, er lehrt an der Deutschen Landjugend-Akademie in Bonn, hat einen Versuch unternommen: „Über das gelingende Leben in einer entzauberten Welt“. Dies ist der Untertitel seiner Studie, die im flüssigen Plauderton quer durch die Philosophiegeschichte eilt. Alt geht von der Vorstellung aus, daß die Wissenschaften in der Menschheitsgeschichte eine durchweg negative, eine die Dinge entzaubernde Rolle gespielt haben. Eine Ansicht, die vermutlich von Naturwissenschaftlern so kaum geteilt werden kann. Somit, folgert er, sei der „Sinn“, der doch einst wenigstens als Hoffnung am Horizont erschienen sei, verschwunden. „In diesem Buch“, kündigt Alt an, „beschäftigen wir uns mit den Sinnerwartungen und mit den Zweifeln. Wir werden darüber hinaus überlegen, wie ein Leben in unserer Welt gelingen kann.“

Die Frage nach dem Sinn des Lebens, allgemein und individuell, bleibt im Grunde ja immer eine ziemlich abstrakte Angelegenheit. Und oft wird sie in kritischen Situationen gestellt, obwohl der in der Welt nicht unerfahrene Mensch allemal weiß, daß dies in dieser Form eher eine Ausweich- oder eine Scheinfrage gegenüber den Turbulenzen der Tatsächlichkeiten ist. Denn das Wort Sinn schon hat für sich genommen weder Höhe noch Tiefe. Es entspringt oft einer Verlegenheit und wird gern in aussichtslosen Momenten aufgetischt. Weil den Fragen nach den wirklichen Verhängnissen oft die gemäßen Inhalte fehlen. Aber Inhalt, oder besser noch Gehalt des Lebens, läßt sich nicht mit solchen vagen Annäherungen wie „Sinn“ erfragen. Denn das Leben ist immer praktisch. Und voller offener Fragen, voller Zweifel, die sich aus Lebensvollzügen, gelungenen wie mißratenen, ergeben. Der Alltagsmensch neigt dazu, sich schnell von Zweifeln und ungelösten Fragen zu lösen.

Das nimmt Alt zum Anlaß, den Leser neugierig zu machen, denn wer hat sich noch nicht die Frage gestellt: „Hat mein Leben überhaupt irgendeinen Sinn?“

Diese Frage läßt sich bekanntlich sehr schwer beantworten. Leichter zu beantworten sind hingegen Fragen nach den Ursachen der Sinnverluste im Laufe der Geschichte. Die Menschen in der Antike und im Mittelalter hätten noch einen Erwartungshintergrund in ihrem Tun gesehen. Er bestand aus natürlichen Dingen, dem Lebensort, Verwandten, dann, schon weniger nah, mit dem Blick auf Zukunft sowie in Verbindung „mit übernatürlichen Mächten“. Doch die Erfahrungswissenschaften hätten die „Einbettung in größere Zusammenhänge“ wieder aufgelöst. Und seitdem irre der Mensch, irre die Menschheit jenem Erwartungshintergrund, der die Frage nach dem Sinn beantworten helfe, blindlings hinterher oder ergebe sich gleichgültig dem Schicksal.

Der Autor untersucht nicht die Lebensverhältnisse, er setzt ganz auf das unausgemischte Zauberwort Sinn und findet viele Belege für Sinnverluste. Der Sinn, meint er, „kam bei der Suche nach Erkenntnissen abhanden - eine nicht beabsichtigte Konsequenz“. Könnte denn nun aber auch „Sinn“ gerade darin gelegen haben, nach Erkenntnissen zu streben? Also: Mitunter helfen ja Gegenfragen, für die methodische Beweglichkeit einer Studie sind sie geradezu unverzichtbar. Aber da ist Alt sehr sparsam. Statt dessen gibt er Auskunft über die Kränkungen des Selbstbewußtseins, woran Kopernikus, Darwin und Freud heftig mitgewirkt hätten.

Es wird ein Gegensatz zwischen „Wahrheit und Sinn“ konstruiert, der leicht in die Nähe von Un-Sinn geraten kann. Denn daß der aufgeklärte Mensch, also die der Verzauberung entzogene Kreatur, durch Soziobiologie oder Verhaltensforschung aus seinen Bahnen gestoßen werde, ist eher zweifelhaft als anregend. Den tiefen Graben zwischen „Wahrheit und Sinn“ wahrnehmend, muß der Mensch doch nicht gleich verzweifeln.

Jürgen August Alt bleibt aber bei der Beschreibung wissenschaftlicher Sinn-Debatten nicht stehen. Auch setzt er sich deutlich ab von „Projekten einer Wiederverzauberung“, wie sie Parapsychologie, Esoterik oder moderner Okkultismus betreiben. Nachdem für ihn die neuzeitlichen Fortschrittsideen geplatzt sind, setzt er auf „kleinere Tröstungen“, sozusagen auf innerweltliche Verzauberung. Herrscht „Sinnknappheit“, muß Sinn wieder her. Aber nichts Großes. So verficht er die Idee, die Eroberung des Glücks, das Glück der Erkenntnis, sei nur diätisch wiederzuerlangen. Man könne da von den Stoikern und Epikureern lernen, sich in Skepsis üben und zugleich „Sinn in kleinen Dosen“ zu sich nehmen. So rundet sich das Bild. Ist erst einmal die Sinn-Losigkeit als Befund vorgeführt, wird ganz klein, bescheiden und überschaubar von vorn angefangen. „Die Verzauberung kleiner Welten“ stellt sich Alt so vor, und er sagt hier kaum etwas Neues, daß sich der Mensch wieder spielerisch verhalten möge. Das Wiedererwachen des Spieltriebs, wenn nicht von innen, dann von außen: durch die Künste. Die Künste dienen sowieso der Verzauberung, sagt er. Aber bitte keine Theorien. Alt begnügt sich mit Zitaten für jede Gelegenheit. Bei dieser gefällt ihm schon Wilhelm Buschs Lapsus: „Kunst: Verzierung dieser Welt.“ Wenn von Verzierung die Rede ist, ist größte Vorsicht geboten. Es gibt zum Glück keine Rezepte für Kunstgenuß, denn der Leser oder Betrachter von Kunstwerken ist immer einer, der sich selbst im Kunstwerk erfährt. Alt zeigt sich hier recht unsicher, und zugleich großzügig, wenn er es dabei beläßt, daß Kunstgenuß „eine Reihe von Möglichkeiten“ enthält, „die zu einem gelingenden Leben beitragen können“.

Vorschläge werden gemacht zur Schaffung neuer Illusionen. Kreativität und Phantasie zu befördern ist immer eine Chance des Menschen gewesen, die Wirklichkeit zu erkennen oder zu verändern. Auch Alt will hier beisteuern mit kleinen Dosen, um den „souveränen Menschen“ wieder hervortreten zu lassen. Die „kleinen Sinnhappen“, auf die er sich kapriziert, sind anschaulich, auch amüsant, kaum aber überraschend, und neu gleich gar nicht. Er schlägt am Schluß seiner Studie Lebensregeln vor, „die ein gelingendes Leben fördern, ein Leben, das Sinnerfahrungen und Glückserlebnisse bereithält.“ Und er nennt Beispiele für Regeln.

Der erwartungsvolle Leser reibt sich erst mal die Augen, solch simple triviale Vorschläge hätte er doch nicht erwartet. „Beschäftige dich hin und wieder mit Dingen“, verkündet Alt, „von denen du nicht im vorhinein weißt, ob sie dir ,etwas bringen‘ ob sie dich interessieren, ob sie dir gefallen, ob sie dir Sinnerlebnisse bescheren.“ Man sollte auch versuchen, „kosmische Dimensionen in Erinnerung“ zu bringen oder aus „Gesprächen und Diskussionen zu lernen“ und sich nicht zum Ziel setzen, „immer recht zu haben“.

Wer dies noch nicht weiß, sollte dankbar sein, es zu lesen: „Übe dich hin und wieder darin, allein und in der Stille zu sein.“ Auch warnt Alt vor „politischen Bestrebungen, die einfache Antworten auf komplexe Probleme versprechen“.

Wer nicht mehr zu sagen hat, nachdem er seitenlang über die Entzauberung der Welt referiert hat, vermag die tatsächlichen Krisen und Probleme der Zeit und der Welt nicht zu benennen. Da hilft dann nur ein Rat wie „Geh schnorcheln!“ Therapie ohne Erkenntnis ist Un-Sinn, die weitschweifige Suche nach dem „Sinn“ endet im biedermeierlichen Seufzen: „Wir müssen uns selber auf den Weg machen. Sinn zu suchen, Sinn (in kleiner Dosis) zu finden.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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