Eine Rezension von Horst Wagner


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Bis unter die Haut

 

Holde-Barbara Ulrich: Die Nackten und die Besessenen
Künstlerporträts.

Karl Dietz Verlag (edition reiher), Berlin 1999, 250 S.

 

 

Natürlich geht es nicht in allen der in diesem Sammelband enthaltenen 20 Porträts, Reportagen und Interviews aus den Jahren 1992 bis 1997 um Nacktheit im direkten Sinne wie bei dem Warschauer Performance-Darsteller Jacek Markiewicz oder der Hamburger Schauspielerin Susanne Lothar, die unter Zadeks Regie als Lulu nackt auf der Bühne agiert. „Es macht kaum einen Unterschied, seinen Körper oder seine Seele zu entblößen. Nur letzteres geht viel tiefer“, läßt die Autorin Frau Lothar sagen. Holde-Barbara Ulrich, die ihr Schreibtalent schon zu DDR-Zeiten mit Beiträgen im „Magazin“ und in der „FÜR DICH“ offenbarte und die nach 1990 durch Bücher wie Schmerzgrenze, Frauenbilder, Feuer im Kopf, Vergeudete Lüste (alle bei Dietz, Berlin erschienen) und ihre Artikel in „Elle“ auch gesamtdeutsch bekannt wurde, versteht es immer wieder, Menschen gleichsam bis unter die Haut aufzuschließen, ihre „Seele“ zu entblößen, sie in diesem Sinne nackt zu zeigen. Wobei auch das Erotische bei ihr keine geringe Rolle spielt, aber ganz ohne Voyeurismus oder Frivolität.

Um Besessene geht es in allen vorgestellten Arbeiten: besessen von ihrem Beruf, einer Aufgabe, dem Leben und der Kunst überhaupt. So wie Hannelore Elsner, deren mit spürbarer Begeisterung gezeichnetes Porträt den Band einleitet. „Sie hat den sinnlichsten Mund, das koketteste Lächeln, die hinreißendste Figur, das umwerfendste Temperament.“ Die Sprache der Autorin ist immer ganz nah bei der beschriebenen Person, nuancenreich, wechselnd mit Milieu und Situation. Oft poetisch überhöht, dann wieder sachlich und temporeich schildernd, manchmal auch ein wenig unterkühlt. Ein besonderer Genuß zu lesen wegen der gekonnten Mischung aus Respekt und feinsinniger Ironie, ist das Porträt der Brecht-Tochter und Erbin Barbara Brecht-Schall, in dem man auch viel Interessantes und Intimes über den Vater und den Mimen-Ehemann Ekkehard erfährt. Ganz anders, von vornehm-zurückhaltender Beobachtung getragen, die „Legende vom großen Ballett“, der berühmten Truppe des Moskauer Bolschoi, eine Momentaufnahme mit kenntnisreichem historischen Hintergrund. Dagegengestellt, gleichsam ohne Tabu, die „Prophetin der zärtlichen Lust“: das Porträt über Claudia Gehrke, die Tübinger Verlegerin des erotischen Jahrbuchs Mein heimliches Auge. Gleich anschließend „Zwei Leben für die Musik“, das Doppelporträt des Opernregisseurs Harry Kupfer und seiner Frau, der Gesangspädagogin Marianne Fischer. Hinter dem hier bewußt knapp gehaltenen, weil schon viel beschriebenen, international gefeierten Mann tritt, besonders warm gezeichnet, die weniger bekannte Frau hervor, die - wegen eines ungeheuerlichen Verdachts von den Sowjets 1945 inhaftiert - im Lager als „Primadonna vom Mühlberg“ zur Sängerin wurde.

Wen uns die in diesem Band veröffentlichten Künstlerporträts und Reportagen sonst noch näher bringen? Den russischen Sänger, Gaukler und Poeten Alexander Gradsky wie die junge Ostberliner Schauspielerin Anne Kasprik, die als 17jährige ihre erste Bühnenrolle in dem Stück „Jutta oder die Kinder von Darmutz“ hatte und deren „Weg nach oben“ über die DDR-Fernsehserie „Einzug ins Paradies“ nach der Wende über Köln auch nach Hollywood führte. Wir lernen in einer hautnahen Reportage die „schräge Meile“ in Ostberlin kennen und in einem Interview „Deutschlands wichtigsten Filmproduzenten“ Bernd Eichinger. Wir nehmen an einer ebenso heiteren wie informativen Plauderei mit der Fernsehkommissarin Bella Block alias Hannelore Hoger, teil, erfreuen uns noch einmal an der „kalkulierten Geschwätzigkeit“ des vor allem durch seinen „blauen Bock“ bekannten Entertainers, Sängers und Autors Heinz Schenk und erfahren von Countertenor Jochen Kowalski, daß seine Bühnenkarriere als Requisiteur begann und daß bei ihm - entgegen anderslautenden Gerüchten - „alles noch drin und drum und dran“ ist.

Holde-Barbara Ulrich nimmt uns mit zum weltberühmten Komponisten und Hobbygärtner Krysztof Penderecki in sein wunderschönes Park-Grundstück bei Krakau und in den Konzertsaal, in dem die junge Pianistin Sophie Mautner, „ein Cherubin im gelben Atlasanzug“, ihren geliebten Chopin spielt - eine Art Wunderkind, an dessen Ruhm zu arbeiten Lebensaufgabe ihres Vaters ist. In Moskau lernen wir die Schauspielerin Anna Wronskaja kennen, die fünf Jahre lang Partnerin und Geliebte des berühmten Andrej Wosnessenski war und von Wim Wenders für den Film entdeckt wurde. In Berlin begegnen wir dem DT-Schauspieler Ulrich Mühe und in Hamburg der hier lebenden japanischen Schriftstellerin Joko Tawada, die mit ihren im konkursbuch Verlag der Claudia Gehrke erschienenen Büchern „Leser wie Kritiker in eine verwirrt euphorische Stimmung“ versetzte. Noch einmal in Moskau, werden wir verabschiedet mit einer Reportage aus der „freiesten Kunstszene“ dieser Stadt und dem bemerkenswerten Ausspruch eines ihrer Akteure: „Wir waren wie in einer Flasche, fest verkorkt. Nun ist das Gebräu explodiert - ein schillernder, duftender, ätzender Schaum.“ Was wohl nicht nur auf die Kunstszene und vielleicht nicht nur auf Moskau bzw. Rußland zutreffen könnte. Alles in allem: Holde-Barbaras Sammel-bändchen - die Beiträge erschienen bisher u.a. in „Elle“, „Brigitte“ und im „Magazin“ - ist ein reines Lesevergnügen. Eine Augenfreude zumeist auch die den Porträts vorangestellten Fotos, ganz besonders aber das Titelbild: eine moderne und künstlerisch enthüllende bzw. verfremdende Auffassung der Bremer Stadtmusikanten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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