Eine Rezension von Friedrich Schimmel


Liebende und Fremde

Margriet de Moor: Herzog von Ägypten

Roman.
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen.

Carl Hanser, München 1997, 259 S.

 

Margriet de Moor, geboren 1941, studierte Klavier und Gesang. Erst grau dann weiß dann blau war ihr erster Roman, der 1993 bei Hanser in deutscher Übersetzung erschien und sogleich ein heftig zustimmendes Echo bekam. In diesem Buch versuchte die Erzählerin, „das unaussprechliche Leben“ darzustellen. Traurig, aber auch ein bißchen ironisch, ließ sie in der Klavierlehrerin die widerstreitenden Stimmen und Stimmen von Partnern miteinander streiten: „Hoffnungslos war es, all die halben Parts. Musik für vier Hände. Vier. Man konnte natürlich versuchen, die fehlende Hälfte mitzusummen. Oder zu pfeifen. Man konnte armselige Versuche anstellen, um das ursprüngliche Werk zu rekonstruieren.“ Werk oder gar das Leben, es kann durch Literatur der Versuch unternommen werden, es zu rekonstruieren. Gelingen wird es nie ganz. Aber gelingen kann der Versuch, es zu erzählen. Margriet de Moor erzählt immer Liebesgeschichten, aber zum Ende hin, oft schon viel früher, wird deutlich, daß es kein gutes Ende geben wird. Melancholisch, traurig, das bestimmte auch den Erzählgestus in den Bänden Rückenansicht, Der Virtuose und Ich träume also.

Margriet de Moors neuer Roman Herzog von Ägypten dringt in eine scheinbar neue Welt ein, die eigentlich eine ganz alte ist. Ein Buch über das Leben der Sinti und Roma, die in der Öffentlichkeit noch immer das Fremde, das Andere, verkörpern. Hier wird es ganz lebendig geschildert, das oft so geheimnisumwitterte Leben der Zigeuner. Der Zugang zum Leben in der ganz anderen Art erfolgt im Rahmen einer Liebesgeschichte. Im Sommer 1963 treffen der schöne, dunkle Joseph und die blasse Bauerntochter Lucie aufeinander. Liebe auf den ersten Blick, wie das so ist. Beide heiraten. Lucie wird als „Geschöpf von abweichendem Charakter und einfältigem Lächeln“ beschrieben, wovon der Leser aber zunächst weniger wahrnimmt. Denn zuerst kommen die Kinder, gleichzeitig werden auf dem großen Hof in der weiten Landschaft Pferde gezüchtet. So vergehen die Jahre in einem Dorf im Osten der Niederlande. Eine scheinbar normale Ehe, doch alljährlich immer wieder unterbrochen von einem merkwürdigen Ritual des rastlos schweifenden Ehemanns.

Joseph, also der mit dem Hängeschnauzer und mit den leuchtenden romantischen Augen, hält es einmal im Jahr nicht mehr bei seiner Frau. Er packt seine Koffer und verschwindet. In die Welt, in der alles ganz anders ist, in der man nicht ortsgebunden fest lebt, immerzu unterwegs ist. Sommerzeit ist für ihn die Zeit, wo er zurückkehrt zu seinen Ursprüngen, zu seiner quer durch Europa herumziehenden Verwandtschaft. Jedes Jahr dasselbe Bild: Im Herbst kommt Joseph zurück, betritt Haus und Hof, wird von Lucie wieder in die Arme genommen. Aber es ist immer wieder anders für beide, und mit den Jahren wächst auch der Abstand zwischen dem Paar, das nur eins auf Zeit ist. Die Erzählerin stellt es so dar: „Sie war verliebt in einen Fremden. Der Mann, mit dem sie schlief, der jeden Spätsommer zurückkommen durfte, um sich im Bett an sie zu schmiegen, mußte ihr unendlich vertraut, am liebsten aber auch unendlich fremd sein.“

Bittersüß und eigenartig, wie aus einer anderen Welt, so sind auch die Geschichten, die Joseph aus der Fremde mitbringt, die er ausführlich erzählt. Doch im merkwürdig aufleuchtenden Zusammenfallen so verschiedener Welten entfaltet dieser Roman seinen poetischen Reiz. Joseph bricht mit seinen Geschichten das eingeengte Bild der Sinti und Roma auf. Er erzählt von Festen und Bräuchen, von abenteuerlichen Liebschaften und hartnäckigen Stammesfehden. Auch Bärenführer kommen in seinen Geschichten vor, überall raunt eine eigenwillige Stimme, blitzt ein Feuer, hört man von den langen Stunden am Lagerfeuer, unzähligen Geschichten in der Geschichte. Aber es schimmert auch immer die Tragik und Ironie der Zeitgeschichte in diesen Geschichten auf, denn Ausgrenzung und Verfolgung, Vorurteil und Feindseligkeit sind nicht wegzudenken, wenn von der Geschichte und den Phantasie-Geschichten der Zigeuner in Europa die Rede ist.

Margriet de Moor erzählt diesen Roman, der aus vielen vielschichtigen Geschichten besteht, mit Freude am Detail. Sie wechselt souverän die Stimmen und die Stimmungen ihres exotischen Personals, deren erlebte Geschichten immer aus einer Mischung von Erfahrung und Erbe bestehen. Was es zu erzählen gibt, wurde nie aufgeschrieben, ging nie in einer literarisch fixierten Geschichte auf. Es lebt alles weiter, nur durch Erzählen. Auch ganz phantastisch kann das werden. Einmal tauscht Joseph gar seine Rolle mit seinem längst verstorbenen Vater, der auch als Erzählender aufzutreten vermag. Und er berichtet, was ihm im Krieg widerfahren ist, verlängert damit den großen Erzählstrom um eine weitere spannende, eine zurückliegende Episode.

Eindringlich wird dieser Roman erzählt, die einfache Zeit wird überwunden, ganz nach Art wunderbarer Poesie, und ganz nebenbei auch mitgeteilt, daß selbstverständlich Josephs Lebensgang schon vor Hunderten von Jahren, also weit vor seiner Geburt, begonnen habe.

Die „Geschichte“ von Joseph und Lucie lebt von der Poesie der Geschichte. Ist möglich, obwohl oder weil die beiden einander „fremd“ sind. Das ist der Kunstgriff der Erzählerin.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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