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Cristina Tudorica

Outsider oder Insider? Leben und Schreiben nach der Auswanderung

Gedanken am Rande der Interview-Sammlung: „Daß ich in diesen Raum hineingeboren wurde“ - Gespräche mit deutschen Schriftstellern aus Südosteuropa

 

Das Buch umfaßt Gespräche, die der Herausgeber zwischen 1991 und 1997 mit Schriftstellern aus Südosteuropa geführt hat und die danach in den Südostdeutschen Vierteljahresblättern erschienen sind. Das Anliegen dieser Interviews war es, durch „gezielte, auf das Werk und die Biographie des jeweiligen Autors ausgerichtete Befragung eine Vielzahl von Informationen über die deutschsprachige literarische Vergangenheit Südosteuropas in diesem Jahrhundert und über den weiteren Werdegang dieser Schriftsteller nach dem Verlassen der Region in Erfahrung zu bringen - und damit ihren Beitrag und Stellenwert sowohl in der Kultur des Herkunftsgebietes als auch im Rahmen der deutschsprachigen Literatur insgesamt zu beleuchten“. (S. 8)

Das Buch gliedert sich entsprechend der Herkunftsgebiete der Schriftsteller in drei Teile: Der erste umfaßt Batschka, Preßburg und Budapest, der zweite die Bukowina, während der dritte und umfangreichste den deutschschreibenden Autoren aus Rumänien gewidmet ist. Trotz ihrer Verschiedenartigkeit ist den aufgezeichneten Gesprächen eine Kontinuität eingeschrieben: Sie beleuchten literarische und historische Ereignisse in der chronologischen Abfolge, so daß man das Gefühl hat, eine Geschichte zu lesen, die in der Zwischenkriegszeit oder sogar früher beginnt und abwechselnd von verschiedenen Personen und aus verschiedenen Perspektiven bis hin zur Gegenwart weitererzählt wird.

Ein Thema, das in den Interviews häufig wiederkehrt, sind die Publikationsschwierigkeiten nach der Ausreise, die sich aus dem Verhältnis zwischen Medien und Politik ergaben: „Die Aufmerksamkeit, die uns zuteil geworden ist, hatte ihren Ursprung nicht in der Literatur. Die relative Bekanntheit zumindest einiger Autoren ist erst durch die politische Berichterstattung aus und über Rumänien möglich geworden.“ Da die politischen Informationen nicht mehr so spektakulär seien, komme es „jetzt wirklich nur noch auf die Texte an“. (S. 288)

So schätzt Werner Söllner zu Recht die Lage seiner - also der jüngsten und letzten aus Rumänien nach Deutschland ausgewanderten - Schriftstellergeneration ein.

Viel schwieriger gestaltet sich jedoch das literarische Fort- und Überleben der Vorgängergeneration, die bereits in den siebziger Jahren Rumänien verließ und zu der z. B. Hans Bergel (geb. 1925) oder Andreas Birkner (geb. 1911) gehören. Diese Schriftsteller wurden durch die prägnanten, realitätsnahen Schilderungen ihrer Nachkriegserfahrungen im stalinistischen Rumänien (auch von den „Literaturgewaltigen“) als unbequem empfunden, weil sie damit nicht in die damalige politische Landschaft Westdeutschlands paßten. Die Interviews mit den Autoren dieser Generation verdeutlichen aber, daß es ihnen - gerade durch die Prägung der Kriegs- und Nachkriegsjahre - nicht auf Repräsentation, Bekanntheit oder Ruhm ankam, sondern vielmehr auf die Qualität ihrer Literatur.

Ähnliche Erfahrungen, das Verhältnis zwischen Medien und Literatur betreffend, gab es auch bei den noch älteren Schriftstellern. Moses Rosenkranz (geb. 1904) erläutert realistisch jene Umstände, deren Zusammenspiel den Öffentlichkeitserfolg bestimmen: „Die Präsenz in gewissen Medien hängt von sehr vielen Faktoren ab und ist letzten Endes immer eine Frage der Vermittlung und weniger eine der literarischen Qualität. Jüngere Dichter, die die Bukowina bedeutend früher als ich verlassen konnten, hatten das Glück, von den Wellen einer bestimmten Konjunktur hochgespielt zu werden. Mir fehlte diese Lobby, und ich habe sie auch nicht gesucht. Ich war immer ein ,Alleinläufer‘ und ich bin auch heute noch einer. So blieb ich ,unbehandelt‘, aber auch ,unverhandelt‘.“ (S. 89)

Von den Medien anerkannt wurden - als große Ausnahme - einige Schriftsteller aus dem Umfeld der Aktionsgruppe Banat. Als sie, kurz vor 1989, in Deutschland ankamen, war der Ost-West-Konflikt akut. Das beste Beispiel für die Instrumentalisierung von Literatur durch die Medien ist Herta Müller (geb. 1953). Das von ihr gezeichnete Bild national denkender und handelnder Banater Schwaben, die ihr Deutschtum engstirnig pflegen, wurde bereitwillig von den Medien aufgegriffen und auf die gesamte deutsche Minderheit in Rumänien übertragen. Eine Schriftstellerin, die nicht nur unter den Zwängen der Diktatur, sondern in gleichem Maße unter jenen der Kultur, aus der sie hervorgegangen war und von der sie sich radikal lossagte, litt, war besonders medienwirksam und glaubwürdig. In einer Zeit, als Informationen aus dem Osten nur verzerrt in den Westen drangen und als es galt, ebendiesen Osten als das Böse par excellence darzustellen, kamen Herta Müllers abstoßende Darstellungen der banatschwäbischen Minderheit den Medien regelrecht entgegen.

Gut ein Jahrzehnt nach der Wende steht das Interesse am politischen Geschehen nicht mehr im Mittelpunkt, so daß sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das literarisch Wertvolle konzentrieren kann. Es wäre wünschenswert, daß einigen jener Werke auslandsdeutscher Schriftsteller, die zum Zeitpunkt ihres Erscheinens politisch „unmodern“ waren, die Chance einer Neuauflage gegeben würde.

Als Folge der Publikationsschwierigkeiten im Westen gestaltete sich das Schreiben häufig als Balanceakt zwischen Schreibberuf und Brotberuf. Letzterer bedeutete für einige der interviewten Schriftsteller das Verfassen von Schulbüchern oder die freie Mitarbeit bei Rundfunksendern und verschiedenen Publikationen. Das erstaunlichste Beispiel ist Walter Myß (geb. 1920), der 23 Jahre lang Continental Manager eines großen Reisebüros war.

Ein immer wiederkehrendes Thema ist die Beziehung zur Heimat als Gegenpol zur Erfahrung des Exils. Bei einem Großteil der Schreibenden besteht der Komplex „Heimat“ in ihrem Leben nach der Auswanderung fort und ist bleibender Bestandteil ihres Schaffens. Diese Schriftsteller könnte man unter dem Stichwort „Kontinuität“ zusammenfassen, wobei allerdings bemerkt werden muß, daß der Begriff „Heimat“ beim Übergang aus der konkreten in die abstrakte Ebene sehr unterschiedliche und oft unerwartete Formen annimmt.

Für Johannes Weidenheim (geb. 1918) ist das Heimweh nach Pannonien „einer der ursprünglichen Antriebe zu all den Geschichten“, die er seit bald einem halben Jahrhundert schreibt. (S. 26)

Eine Reihe anderer Schriftsteller empfindet den Balkan als unerschöpfliche Inspirationsquelle. So erklärt z. B. Franz Hutterer (geb. 1925): „Ich schreibe in der Sprache und Melodie, die ich dafür gefunden habe, manchmal langsam und breit, dahinfließend wie die Donau, manchmal umständlich um Inseln herum und durch Seitenarme, manchmal sprunghaft.“ (S. 42)

Auch die häufigen Übersetzungen aus der Sprache ihres Herkunftslandes ins Deutsche sind Ausdruck des Wunsches, die Verbindung zur Heimat aufrechtzuerhalten. Alfred Marnau (geb. 1918) bezieht diese Tätigkeit auf seine frühen Erfahrungen in Preßburg: „... selbst mein Hang zum Übersetzen dichterischer Werke rührte aus der Quelle seiner (Preßburgs d.A.) Vielsprachigkeit, seiner Musik, die aufbegehrend und lieblich sein kann, wie eben das Rauschen der Donau; meine Charakteranlagen verdanke ich dieser einst von tiefstgedachter Kultur und Menschenverständnis durchwebten Stadt.“ (S. 65)

Dem Dichter Moses Rosenkranz (geb. 1904) zufolge, hallt in seinen Versen der Rhythmus der Bukowina mit ihren tiefen Wäldern und den Flüssen Pruth und Czeremosch nach, der ihn auch während der Deportation in Arbeitslagern und während der sibirischen Haftzeit begleitet hat. Er nennt diese zur Erinnerung gewordene Heimat, aus der er über Jahrzehnte Kraft schöpfen konnte, sein „Wunder“. (S. 89)

Beeindruckend ist die ideelle Dimension, zu der sich Heimat im Laufe der Jahrzehnte entwickelt hat, wie auch der Stellenwert, der ihr im Prozeß künstlerischen Schaffens beigemessen wird. Moses Rosenkranz erklärt: „Ich habe mir einen Daueraufenthalt außerhalb der Bukowina nie richtig vorstellen können. Ich fiebere auch jetzt, vor allem seit dem Zusammenbruch des Kommunismus in Südosteuropa, vor Sehnsucht zurück. Allein die Beziehung zu meiner Frau hat mich hier gehalten, und jetzt hindert uns unser Alter, in meine Heimat zu fahren“. (S. 93)

Ähnlich äußerte sich Emil Cioran in einem Brief an Gabriel Liiceanu, als dieser ihn nach dem Umbruch 1989 nach Rumänien einlud: „Ich fühle mich nicht so wohl. Meine Gesundheit läßt zu wünschen übrig, und ich habe nicht mehr die Kraft, die Emotion der Rückkehr nach einer Abwesenheit von mehr als 50 Jahren zu ertragen. Wichtig ist, daß mein Ursprung in mir bestehen bleibt, und ich bin gerührt zu wissen, daß er auch in Ihrem Herzen besteht.“ (21. Sept. 1991)

Man findet in diesen Auffassungen von Heimat eine ideelle Größe, die sich über ethnische Un-terschiede hinwegsetzt, ein kulturelles und geistiges Ausstrahlungspotential, das auf die Zeit fruchtbarer Anfänge zurückgeht, um sich dann bereichernd auf das gesamte Schaffen auszuwirken.

Das häufig als magisch und geheimnisvoll empfundene Rumänien als Teil des Balkans und also Südosteuropas weiß Hans Bergel (geb. 1925) durch einen sehr interessanten Vergleich zu deuten: „Die chaotische Impulsivität, das Gärende der Vielnationalität, die grelle Farbigkeit in allem, das Völkergemisch, die Kulturbrechungen ...“ (S. 183) - das alles erinnert ihn an die Romanwelt der Lateinamerikaner García Márquez, Isabell Allende oder Vargas Llosa.

Wichtig erscheint mir bei dieser Gruppe von Schriftstellern, die Heimat nicht nur als Bezugspunkt in der Vergangenheit zu sehen, sondern vor allem deren Projektion in die Zukunft. Walter Myß spricht in diesem Zusammenhang von der „Wahrung eines wertvollen geistigen Erbes“ und von dessen „Weiterführung“ (192).

Auch Karin Gündisch (geb. 1948) sucht den Wert der Heimat in der Kontinuität: „Ich habe die siebenbürgische Provinz als Ort und Geisteshaltung schon seit langem verlassen. Sie bleibt mir aber als etwas sehr Vertrautes, Altbekanntes für immer erhalten.“

Franz Hodjak (geb. 1944) fühlte sich in Rumänien aus politischen Gründen - und weil er einer Minderheit angehörte - nicht „beheimatet“. Deutschland war für ihn „kein Ziel, sondern eine Ausweichmöglichkeit“ (270). Vielmehr war Heimat die Suche nach Gleichgesinnten, ob es Deutsche, Rumänen oder Ungarn waren. Sie war der Zufall, „daß ich in diesen Raum Siebenbürgen hineingeboren wurde“ (283), erklärt er und sieht in diesem Ort des Ursprungs die Quelle jener wertvollen Erfahrungen, die die Brücke aus der Vergangenheit in die Zukunft schlagen.

Eine besondere Kategorie von Schriftstellern sind die in der jiddischen Sprache beheimateten. Josef Burg (geb. 1912) blieb und schrieb in der Bukowina, die „in seinen Schriften lebt und atmet“. (S. 107) Manfred Winkler (geb. 1922) gelang es, nach der Einwanderung in Israel mit 37 Jahren die neu erlernte Sprache - das Hebräische - zur Sprache seiner Dichtung zu machen, was ihn zum Wunderkind werden ließ. Er spricht in diesem Zusammenhang vom „nie gekannten Gefühl, im eigenen Land zu sein, mit eigenem Boden unter den Füßen“ (119). Ob konkret oder abstrakt aufgefaßt, erhält diese Aussage die grundlegende Botschaft vom Finden der Heimat als Gegensatz zu deren Verlust.

Eine letzte Gruppe von Schriftstellern ist jene, die der Heimat als Herkunftsgebiet eher neutral gegenübersteht, wie z. B. Wolf von Aichelburg (geb. 1912), der sich immer als „deutscher, nie als rumäniendeutscher Künstler verstanden hat“ (S. 126), und der sein Werk von der „zeitgenössischen europäischen Lyrik“(S. 129) bestimmt sieht. Eine ähnliche Position beziehen Schriftsteller aus dem Umfeld der Aktionsgruppe Banat, mit dem Unterschied, daß bei ihnen, die sich als „Minderheit in der Minderheit“ (Richard Wagner) empfanden, eine ambivalente oder sogar ablehnende Haltung gegenüber der Heimat als Ort negativer Kategorien festzustellen ist (siehe z. B. Herta Müllers Heimat oder der Betrug der Dinge).

Es ist außerdem interessant zu verfolgen, welchen Stellenwert die Schriftsteller der verschiedenen Generationen dem Schreiben beimessen. Für die Autoren der Zwischen- und Nachkriegsjahre hatte es eine existentielle Bedeutung. Trotz widriger Umstände schrieben sie weiter, mit einer Begründung, die ein knapper Satz von Wolf von Aichelburg ausdrückt: „Wenn der Geist bereit ist, findet sich immer ein äußeres Mittel.“ (S. 130) Das Schreiben war somit essentieller Bestandteil jenes inneren Widerstandes, der sich gegen schwierigste Haft- und Arbeitslagerbedingungen durchsetzte. Es bedeutete Ablenkung und Kontinuität zugleich, in einem Wort: Weiterleben. Diese Einstellung zum Schreiben stellt keineswegs eine rumäniendeutsche Besonderheit dar. Der rumänische Philosoph Constantin Noica, der selber über zehn Jahre unter Hausarrest und in kommunistischen Gefängnissen verbracht hat, verbot es seinen Schülern, die Welt, in der sie leben, für ihren Mißerfolg verantwortlich zu machen. Wenn es eine Misere gibt, so Noica, dann gibt es sie zuallererst in einem selbst, in den eigenen inneren Grenzen. Man habe Bücher bei Kerzenlicht gelesen.

Im Schreiben konkretisierten sich andererseits auch politische und erzieherische Ansätze. 1976 versuchte Hans Bergel, durch das Verfassen einer Studie zur Lage der Deutschen in Siebenbürgen den Kurs der Minderheitenpolitik Ceausescus zu beeinflussen. Andere, wie z. B. Franz Hodjak, vertraten die Brechtsche und Benjaminsche Auffassung von der Literatur als ein die Gesellschaft verändernder Faktor. Ähnliche Ansprüche stellte in der Zeit der Liberalisierung Ende der siebziger Jahre auch die Aktionsgruppe Banat an die schriftstellerische Arbeit.

Der hohe Wert dieses Buches liegt - meiner Ansicht nach - vor allem in seinem dokumenta-rischen Charakter, der aus autobiographischen Schilderungen von Zeitzeugen erwächst. Sie, die Überlebenden und die noch Lebenden, gehören zu den letzten, die berichten können.

„Daß ich in diesen Raum hineingeboren wurde“ - Gespräche mit deutschen Schriftstellern aus Südosteuropa
Herausgegeben von Stefan Sienerth.
Verlag Südostdeutsches Kulturwerk, München 1997, 347 S.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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