Eine Rezension von Sebastian Kiefer


Irische Poesien

Seamus Heaney: Die Wasserwaage/The Spirit Level

Gedichte, Englisch und Deutsch.
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini.

Carl Hanser, München 1998, 144 S.

 

Um Irland, das kann gar nicht anders sein, kreist ein Großteil der Poesien Heaneys. Um das im Hader der Konfessionen entzweigerissene Irland, und natürlich auch um jenes Irland, in dem die Weltgeschichte noch keinen Einzug gehalten hat, in dem Bauern ihr Land bestellen im mit allerlei alten Geschichten, Mythen und Aberglauben gesättigten Geist der Großväter. Heaney nämlich ist nicht einfach nur Ire und ein grandioser Dichter, der es schon als Dreißigjähriger bis zum Lektor in Berkeley gebracht hat und seit vielen Jahren an den feinsten akademischen Häusern der angelsächsischen Welt Vorlesungen hält. Er ist Ire, weil er zwar in der Ferne berühmt und des öfteren auf Reisen, doch deshalb nur um so tiefer aus seinem Mutterboden schöpft - rund um den Marktflecken Mossbawn in der nordirischen Grafschaft Derry, genau auf der (einstigen) Grenzlinie zwischen englischem und irischem Territorium gelegen. Dort erblickte er vor sechzig Jahren als erstes von neun Kindern einer katholischen Bauernfamilie das Licht dieser Erde, und sein alltäglich Brot waren, wie (seinerzeit) für jeden Iren (sofern er den Namen verdient), irische Nonsensverse, Kinderreime und patriotische Balladen. Weil er gottlob in eine überkonfessionelle Schule ging, kamen bald Byron und Keats hinzu, und weil er dann auch noch ein glänzender Anglistikstudent war, schlägt sein Herz zwar unverbrüchlich mit den Landsleuten, den mythologischen Stoff jedoch entlehnt er längst nicht mehr nur dem heimatlichen Erbgut. Er schliff seinen Geist an der Weltliteratur des Erbfeindes, an Shakespeare und John Webster, er wurde Kosmopolit.

Die behelmte, mit Armeskraft zu betreibende Pumpe im elterlichen Hof (den noch heute, glauben wir einem seiner neuesten Gedichte, sein Bruder bewirtschaftet) war für den kleinen Seamus einst der Nabel der Welt, und sie ist es für den berühmten Heaney noch immer geblieben. Dennoch entzündete sich das überragende Dichtertalent nicht an heimatlichen Traditionen. Es brach sich Bahn, weil Heaney schon früh „für Hopkins’ konsonantische Verse empfänglich war, die zwischen Zähnen und Zunge prasselten und prallten“. Nicht Nostalgie oder Patriotismus machten Heaney zum großen Dichter, sondern der singuläre Sinn für die Musik der Konsonanten, die „die Fülle, Üppigkeit und latente Lüsternheit der Vokale zäunen, zerschlagen und zermalmen“ kann. Unter seinen Händen stimmen Zischlaute kleine Geräuschkonzerte an, schlagen Liquida Kapriolen, vollführen Verschlußlaute akustische Drahtseilakte - und die Vokale werden im Windschatten hinweggerissen wie kleine Feuerschweife und erstehen zu neuer Leuchtkraft.

Es wird vielleicht immer das Geheimnis Heaneys bleiben, warum ihm nichts pure Lautmalerei oder artistisches Sprachspiel wird, sondern der akustische Zauber stets im Dienste der visuellen, historischen oder taktilen Plastizität der dargestellten Dinge bleibt. Der neue Band, der nun im angestammten Verlagshaus herausgekommen ist, zeigt uns den Hexenmeister der Dental-, Reibe- und Zischlaute auf der Höhe seiner Kunst. Müheloser als je zuvor inszeniert er seine Silbenballette - da kann eine ganze Strophe (fast) nur aus „A’s“, „O’s“ und den sie energetisch aufladenden, summenden, pfeifenden, explodierenden Konsonanten herum bestehen. Auch diesmal kann ein Nicht-Engländer (und nicht nur der) sich an dem einen oder anderen Vers die Zunge brechen, so verdichtet und doch unberechenbar ist es mancherorts komponiert. Auch die pure, augenzwinkernde Sinneslust beim Jonglieren mit den Wortenergien, mit Assonanz und Alliteration kommt noch einmal zu ihrem Recht („in that slabbery, clabbery, wintry, puddled ground“). Natürlich sind es auch diesmal die lang verflossenen Dinge rund um den Mossbawner Hof, von denen sich Heaneys Phantasie am liebsten entführen läßt - vom zerschlissenen Sofa in der guten Stube zum Beispiel, das der ganzen kleinen Steppkenschar Heaney als Untersatz diente, um damit in die weite Welt, durch Tunnels und Wiesen hindurch, zu brausen (natürlich, die Augen mußte man schließen, sonst sah man nichts, oder eben nur den zerbeutelten Stoff zwischen den Schenkeln). Oder von einer Glocke, die zu groß geraten war, um durch den Turm einer nordirischen Dorfkirche zu passen und so dem heiligen Adamas Gelegenheit bot, ein gutes Werk zu tun. (Und auch der legendäre Kuhhirt Caedmon, bekannt aus den Oxford-Vorlesungen Heaneys, tritt auf.) Oder von der Nachbarin, die vollständig erblindet war, doch unentwegt auf dem Klavier phantasierte und so eine ganze Kindheit musisch grundierte. Oder vom Vater, der launig liebevoll den Geist des Knirpses testet (mit einem Satz, der dem Sohn ein halbes Jahrhundert später einen Buchtitel schenken wird): „Lauf Sohn, wie der Wind [warum hier „devil“ nicht wörtlich übersetzt wurde, ist nicht recht verständlich] / Und sag deiner Mutter, sie möchte mir / Eine Blase für die Wasserwaage finden / Und einen neuen Knoten für den Schlips hier“. Ein Vater, der den Sprößling in eine kleine Ekstase versetzt, weil er ein hundsgewöhnliches Blatt Papier mit ein paar magischen Griffen in ein Schiffchen verwandeln konnte, „straff und gespannt wie ein Zelt: / geschnäbelt, kiellos, die kleine Pyramide / Mittschiffs hunterprozentig so hohl / Wie ein Teil von mir, der in die Hose sank, da er wußte, / Das Ganze würd beim Stapellauf zerweichen“.

Natürlich verbirgt auch diesmal der Herzblutire Heaney seinen Kosmopolitismus nicht und auch nicht seine humanistischen Wurzeln: Er dichtet Verse aus dem Niederländischen und Rumänischen nach, und er führt uns ein Stück Artridenmythos vor (aus ungewohnter Perspektive, wie sich für Heaney versteht, und auch nur den unrühmlichsten Teil, die hinterhältigen Freuden der dauerlüsternen Klytämnestra und ihres schwachen Gespielen Aigisthos).

Und doch ist das Geheimnis Heaney noch einen Deut größer geworden: Er leistet es sich immer öfter, unscheinbar und schlicht, ganz ohne virtuoses Passagenwerk zu dichten, ohne daß Tonfülle und Prägnanz verlorengingen. Er wechselt die Tonlage von einem Moment zum anderen, vom Klangmanierismus zum delikat Humorigen, von der großen Metapher zum Slang, und doch ist es nur eine Stimme, die da spricht. Und auch seine Meisterschaft, Zeiten, Bild- und Realitätsbereiche ineinanderzuschieben, zu kontrastieren oder zu collagieren, ist noch reicher und subtiler geworden. Einige Stücke sind Lehrstücke meisterhaften Handwerks. Wenn es gleich im ersten, hinreißenden Gedicht heißt: „Und decrescendo rinnt’s durch alle Oktaven, / Wie eine Traufe, die vertröpfelt. Und jetzt kommt“ - und die Zeile bricht ab, wie wunderbar ist hier die Verzögerung durch den Zeilensprung. „And now here comes“ heißt es im Original - ein Satz, der in Schauspiel und Oper den Auftritt von Königen und sonstigen Größen einzuleiten pflegt. Heaney weiß darum natürlich, und weiß, wie man solche Traditionen aufruft, um mit ihnen zu spielen: „And now here comes / A sprinkle of drops out of the freshened leaves“ („Und jetzt kommt / Ein Sprühgeriesel aus dem erfrischten Laub“). Ein stärkerer und zugleich poetischerer Gegensatz zur theatralischen Geste zuvor läßt sich wohl nicht denken.

Übersetzen kann man das nicht, das versteht sich. Wenn man es dennoch tut, dann wohl so wie das an Heaney und auch sonst bewährte Paar Bandini (vormals Bandini und König) - keine müden Kompromisse machen, sondern sich beherzt entscheiden, wo die Metapher um den Preis der Buchstabenmusik und wo umgekehrt die Musik auf Kosten des Wortsinnes zu retten ist. Und wenn es Klang und Rhythmus wohltut, dann darf im Deutschen, selbst wenn es wörtlich Falsches ergibt, auch einmal der Lust am Altertümeln nachgegeben werden. „Rot auf Zement-Kürsch“ ist, dem wörtlichen Sinne nach, ziemlich weit weg von „Gules and cement dust“, bewahrt aber so den Rhythmus und das Gezierte von „Gules“ einigermaßen. (Und ein Vers „Wie einer dieser alten Reifrock-Wirtel“ klingt einfach hübsch.) Wir dürfen uns getrost laben an der Assonanz in „Mürrischen Mörtels“, auch wenn bei Heaney an dieser Stelle gar keine vorkommt - nur zu viele andere mußten ohnehin dem Transfer geopfert werden. Wenn man, wie von Celan vorgemacht, um die Wortstellung zu erhalten, bei „I was glad of the early heat“ einen Doppelpunkt einschmuggelt - „Ich war froh: die frühe Wärme“ -, läßt sich schwer etwas einwenden. Und wenn in „The carved, curved ends“ das Komma entfällt, um auf ganz andere, überraschende Weise die Assonanz zu retten - „Geschnitzte Schnörkel-Enden“ -, so ist das vielleicht gewagt, doch eindrucksvoll und kreativ.

Nur eines will nicht ganz stimmen: Man hat sich im Hause Hanser dafür entschieden, einige kommentierende Anmerkungen beizugeben. Doch wenn man das tut, hätte man gewiß nicht so sparsam sein sollen - oder versteht es sich von selbst, was „sporrans“, „permafrost“ und der „St.-Bridgid-Tag“ sind oder gar der „hill-fort-Lehm“? Und wenn man schon ein gut erkennbares Dante-Zitat umständlich ausweist, warum dann nicht die vielen aus der englischen Dichtung, die dem kontinentalen Leser unmöglich geläufig sein können?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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