Eine Rezension von Bernd Heimberger


Nähe aller Naturwesen

Günter Grass: Auf einem anderen Blatt
Zeichnungen.

Steidl Verlag, Göttingen 1999, 172 Abb.

 

„Ungebrochene Vitalität“ attestierte ein Kollege wohlmeinend dem siebzigjährigen Jubilar Günter Grass. Sollte der den Text gelesen haben, wird er vermutlich fragend über den Brillenrand geguckt haben. Von ungebrochener Vitalität kann nur ein Mitdreißiger schwadronieren. Wenn Grass, wie gerade geschehen, statt mit einem neuen Essay-Band aufzutreten, „Werkstattgespräche“ publizieren läßt, spricht das dafür, wie Kräfte konzentriert und komprimiert werden. Von wegen ungebrochene Vitalität! Mal abgesehen von der verblüffenden Vitalität, die der Mann seit Jahrzehnten an den Tag legt. Was Grass über sich und seine Vitalität zu sagen hat, äußerte er vor langer Zeit. Er erzählte, daß er in heftigeren Zeiten, als er in der ersten Reihe politischer Wahlkämpfer stand, jahrelang nicht zum Zeichnen kam. Und das nicht nur, weil politische Arbeit ohnehin die Phantasie narkotisiert. Wenn jetzt, zeitgleich mit den Werkstattgesprächen, der Kunstband Auf einem anderen Blatt erscheint, sieht’s wahrlich nach „ungebrochener Vitalität“ aus. Auf anderem Blatt gibt’s etwas von dem zu sehen, das der Schriftsteller während eines Halbjahrhunderts als Zeichner aufs Papier brachte.

Vital und vitalisierend wirkt des Künstlers Bekenntnis zum Gegenständlichen. Bevorzugte Motive waren das Holz, das Figürliche, eher das Tier als der Mensch. Im künstlerisch-handwerklichen ein Traditionalist, ist Günter Grass kein simpler Realist, dem die Ratte, das Huhn, die Schnecke, der Vogel, der Fisch nur Fisch, Vogel, Schnecke, Huhn oder Ratte sind. Über die Nähe aller Naturwesen zueinander sagt der Künstler alles, wenn bei ihm „Ein Pulk Nonnen“ aussieht wie eine Vogelschar und eine Rotte Ratten wie geschlachtetes Vieh: „Sie übten den aufrechten Gang.“ Der Hintersinn macht den Doppel-, Dreifach-Sinn in den Zeichnungen. Die konkrete Wirklichkeit hat ihre Entsprechung in den zum Symbol gewordenen Gegenstand. Wie kein anderer deutscher Schrifsteller-Künstler seiner Zeit hat Günter Grass auf unterschiedlichste Art an den heftigen Zeitbewegungen teilgenommen. Die ständige Teilnahme ist die Vitalität des Günter Grass.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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