Eine Rezension von Maria Careg


„Möget Ihr eine sanfte Straße auf dem Weg nach Hause haben...“

Peter Dyckhoff: Albani. Das unerhörte Abenteuer.
Historischer Roman.

Steinkopf Verlag, Stuttgart 1998, 600 S.

 

Der Verlag rühmt dieses Buch als eine neue literarische Form, in der bislang unbekannte Fakten zu einer Art Roman verwoben werden. Wenn es auch nicht unbedingt das erste Buch dieser Art ist, so zählt es auf jeden Fall zu den Begründern eines neuen, hochinteressanten Trends in der Literaturentwicklung wie in der Geschichtsdarstellung. Und es ist ein wunderbarer Bericht über eine wundersame alte Handschrift.

St. Albans, in der Nähe von London gelegen, war das bedeutendste Kloster Englands und damit über Jahrhunderte das wichtigste geistige Zentrum und die größte kulturelle Einrichtung des Landes. Von hier gingen bedeutende Impulse für die Entwicklung der Kunst, der geistigen Diskussion, aber auch der Politik aus. Somit oblag den Benediktinern eine große Verantwortung. Sie mußten sich der Auseinandersetzung zwischen monastischem Ideal und weltlichen Aufgaben stellen und die Rolle des Klosters in der Gesellschaft definieren. Die Albani genannte Handschrift ist ein Psalter, geschaffen von 1123 bis 1135 im Auftrage und unter Mitarbeit des Abtes Geoffrey de Gorham für die Einsiedlerin Christina von Markyate.

Wir schreiben das Jahr 1123. Abt Goeffrey de Gorham, einer der mächtigsten Kirchenmänner Englands, erteilt den Mönchen seines Skriptoriums und dem berühmten Alexis-Meister einen bedeutsamen Auftrag: Es soll ein Psalter geschaffen werden, schöner als alles je Dagewesene, kostbar in der Gestaltung, tiefgründig, menschlich und vergeistigt im Inhalt. Bestimmt war dieses Meisterwerk, an dessen Entstehung uns Peter Dyckhoff teilhaben läßt, für Christina von Markyate, eine weithin bekannte Einsiedlerin, Mystikerin und spätere Priorin. Es fällt schwer, das Universum an geschichtlichen Fakten, geistigen Eingebungen, Verbindungen und Verstrickungen, menschlichen Beziehungen und göttlichen Fügungen in wenigen Worten zu umreißen oder gar zu würdigen. Was Dyckhoff auf 600 Seiten scheinbar mühelos und folgerichtig vor dem Leser ausbreitet, ist das Ergebnis langwieriger und schwieriger Forschungen in England und Deutschland, aber auch tiefgreifender Überlegungen und Erkenntnisse. Dem Priester Dyckhoff sind natürlich die theologischen Hintergründe einfacher zugänglich als dem „normalen“ Leser, aber in seiner trockenen, unsentimentalen und detailversessenen Art bringt er sie uns nahe. Es liest sich so simpel, und es kommt dennoch einer Revolution gleich: Ein Abt widmet einer Einsiedlerin einen Psalter! Wann hat es das je gegeben... Mystiker lebten zu allen Zeiten, aber daß sie neben der Liebe zu Gott auch noch eine irdische - menschliche - Liebe zuließen, das ist außergewöhnlich. Selbst im Jahrhundert des Mönches Pierre Abaelard und seiner geliebten Nonne Héloise erscheint dieser Vorgang eine Unmöglichkeit. Und derselbe Abt verfaßt auch noch eine Biographie der bewunderswerten Christina von Markyate. Der Autor schöpft aus dieser und auch zahlreichen anderen Quellen, um die Lebensgeschichten dieser beiden herausragenden Persönlichkeiten vor uns auszubreiten, miteinander zu verflechten und in den historischen Rahmen einzufügen. Es liest sich wie ein Evangelium, und Dyckhoff ist der Evangelist.

Christina war seit ihrer frühen Jugend fest entschlossen, ihr Leben ehelos zu verbringen und ihre Kraft Gott und den Menschen zu weihen. Was sie durchleiden mußte, um diesen Entschluß gegen den Willen ihrer Familie, ihres zwangsangetrauten Ehemannes und verfeindeter Kleriker durchzusetzen, mutet schier unmenschlich an und kostete sie viel Kraft und Gesundheit. Christina war vom Glauben durchdrungen, ohne fanatisch zu sein und ohne jede Frömmelei. Sie war eine wirklich erleuchtete Frau und erlangte durch ihre Nähe zu Gott und durch ihre Willensstärke große Bedeutung für Abt Geoffrey, aber auch weit über den engen Rahmen des Klosters hinaus.

Der Weg Geoffrey de Gorhams ins Kloster war gänzlich anders geartet. Bevor er nach England kam, war der gebürtige Normanne bereits in jungen Jahren auf dem Festland ein bedeutender Gelehrter. Nie hatte er beabsichtigt, ein Leben in Keuschheit und Gehorsam zu führen. Als dann aber widrige Umstände nicht nur den Antritt seiner Stelle als Lehrer in der Klosterschule von St. Albans verhinderten, sondern auch noch (ohne sein Verschulden) zur Vernichtung von wertvollen, ihm anvertrauten Klosterschätzen führten, wandelte sich sein anfänglicher Schuldkomplex in die Erkenntnis, dies als Zeichen Gottes zu betrachten und ihm fortan zu dienen. Durch seine hohe geistige Bildung und seine erfolgreiche Arbeit als Prior und dann als Abt entfernte sich Geoffrey jedoch mit der Zeit von der Gemeinschaft, der er vorstand. Erst Christina, für die er vor ihrer Bekanntschaft nur milde Herablassung übrig gehabt hatte, machte ihm unaufdringlich und einfühlsam seinen Platz und seine Aufgabe in dieser Gemeinschaft bewußt. Von ihrem ersten Gespräch an vertraute Abt Geoffrey der Einsiedlerin rückhaltlos, und schon bald wurde sie zu seiner unentbehrlichen Beraterin, mehr noch, sie half ihm seine Last zu tragen. Auch Christina wuchs in diesen Gesprächen, und zwischen beiden sollte sich eine Liebesbeziehung entwickeln, die aus christlicher Sicht völlig rein blieb bis zum Tode Geoffreys im Jahre 1146, denn nur so ist es erklärbar, daß diese innige Liebe und Verbundenheit allen Anfeindungen und Verleumdungen standhalten und sie unbeschadet überstehen konnte. Sie widerstanden der fleischlichen Lust und erlagen doch der Liebe. Einziges Zugeständnis ihrer Vertrautheit waren die Kosenamen, die sie einander gaben: Sie nannte ihn „Beloved“ (Liebster) und er sie „Puella“ (Mädchen). Aus dieser geistig so fruchtbaren Beziehung sollte als sinnbildlicher Ausdruck der Albani-Kodex hervorgehen, der nach Psalmen auch ein Kalendarium und von Geoffrey sorgfältig ausgewählte geistliche oder andere bedeutungsvolle Texte enthält. Das ganze Kloster nahm Anteil an seiner Entstehung. Die Illumination der Texte wurde für den damals schon berühmten Alexis-Meister zu einer Herausforderung. Zum erstenmal wurde mir die geistige Dimension dieser für heutiges Verständnis recht einfach wirkenden Miniaturen in ihrer ganzen Größe bewußt. Hier wurde nicht nur ein neuer Malstil geschaffen, eine neue Bildsprache, sondern jedes Bild enthält sowohl eine menschliche als auch eine religiöse Botschaft. Dyckhoff läßt uns den Schaffensprozeß verfolgen und lädt uns zu Deutungen ein, die sich ohne seine Erklärungen und sein sanftes Hinführen nie erschlossen hätten. Zu bedauern ist hierbei nur, daß die Abbildungen ausnahmslos in schwarzweiß gehalten sind, so daß die Phantasie bemüht werden muß, was allerdings nicht schwerfällt. So entstehen vor dem geistigen Auge die Miniaturen zu unvergleichlichen Meisterwerken.

So detailverliebt Dyckhoff in seiner Beschreibung ihres Lebens und der Schilderung alltäglicher Vorgänge - die immerhin von der Pergamentherstellung bis hin zur intimsten Körperpflege reichen - auch ist, so überzeugend ist er jedoch auch in der Lage, große historische Bögen zu spannen. Das Geschichtspanorama, das er für das Verständnis der Entstehung und des weiteren Verbleibs des Psalters der Christina von Markyate entwirft, umfaßt den Zeitraum von 1066 (Sieg Wilhelm des Eroberers bei Hastings) bis in die unmittelbare Gegenwart. Er liefert damit einen lebendigen Crashkurs in englischer Geschichte. Nach Auflösung der Klöster unter Heinrich VIII. schließlich gelangte der Psalter nach Deutschland, wo er sich auch heute noch befindet: in St. Godehard in Hildesheim. Bis zum heutigen Tag hatte er allerdings abenteuerliche Verwicklungen - Reisen, Kriege, Überfälle - zu überstehen, aus denen er jedesmal wie durch ein Wunder unversehrt hervorging.

Wenn Dyckhoff schreibt, daß der Albani-Psalter die Menschen veränderte, die ihn lasen, so weckt sein Buch mindestens die Sehnsucht, dieses Wunder selbst zu erfahren. Und so ist der Untertitel im eigentlichen Wortsinn falsch, denn jene, über die in diesem Buch berichtet wird, wurden erhört - von dem Gott, für den sie lebten. Die Geschichte jedoch, die sich um die Einsiedlerin, Mystikerin und Priorin Christina von Markyate und Abt Geoffrey de Gorham entwickelt, ist aberwitzig, spannend, faszinierend und schier unglaublich - eben unerhört.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite