Eine Rezension von Volker Strebel


Versöhnung und ihre Schwellen

Jaroslav Durych: Gottes Regenbogen
Aus dem Tschechischen von Jan Patocka und Frank Boldt.

Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999, 233 S.

 

Ein schon alter Mann, der sich, von innerer Unruhe getrieben, auf den Weg macht. Er gerät in das böhmische Grenzland, das von der kürzlich erfolgten Vertreibung der deutschen Mitbewohner geprägt ist. Verlassene Dörfer, verwahrloste Kirchen, von Unkraut überzogene Gärten. Bilder, die in ihrer Gnadenlosigkeit an die „verbotene Zone“ in Andrej Tarkovskijs Kinofilm „Stalker“ erinnern: „Jeder Schritt, den ich tat, rief ein Echo hervor, das wie eine Aufforderung klang, für die Verstorbenen zu beten, oder an eine unendliche, schmerzerfüllte Litanei gemahnte. Die Ruinen und Trümmerhaufen waren nicht einmal zahlreich - aber desto schauerlicher und desto bedrückender alles. Halboffene Türen mit schweigendem schaurigem Dunkel dahinter. Auf Fenstergesimsen Blumentöpfe mit brauner Dürre statt Blumen. Anstelle von Vorhängen schaukelten in den Fenstern dicke Spinnengewebe.“ Den Wanderer bewegen diese Eindrücke, sie korrespondieren mit seinem Vorhaben, Nachdenklichkeit in Ruhe mit religiöser Buße zu verbinden. Eine Pilgerschaft besonderer Art, die eigenartige Schwellen zu überwinden hat! Neben den ehemaligen Wohnstätten der Vertriebenen stößt der Büßer auf eine zusammengerollte Schlange, die ihm den Weg versperrt. Dieses bereits naturmystisch interpretierte Hindernis führt den Wanderer kurz darauf zu einer Kirche. Fast zwangvoll tastet er sich im Inneren durch das verwahrloste Dunkel und stößt auf einen Sarg, der nicht beerdigt worden war. All diese Widrigkeiten, die sich dem Pilger entgegenstellen, erfahren in der darauffolgenden Nacht eine ungeahnte Steigerung. Der Wanderer hat sich in eines der Bauernhäuschen zurückgezogen, die am Weg liegen. In der Nacht wird er von einem Spuk in Form einer ansehnlichen Frau geweckt. Eine einschneidende Wendung des bisherigen Geschehens! Fortan beherrschen Dialoge das erzählerische Feld, der alte Mann erfährt bald vom Schicksal der Frau, die im Zuge der gewaltsamen Vertreibung Opfer von Mißhandlungen und Vergewaltigungen wurde. Daß ihre Mutter erschlagen worden war, während sie weiterlebte, empfindet die junge Frau als ihre Schuld.

Es zeugt von der erzählerischen Reife Jaroslav Durychs, daß die folgende Annäherung der beiden in keinster Weise konstruiert erscheint, sondern in einen organischen Prozeß von Verbrechen und Schuld, Scham und Reue eingebunden wird. Jaroslav Durych schloß diesen Roman im Jahr 1955 als Verfemter ab. Durych zählt zu den Schriftstellern der katholischen Moderne, und sein oftmals widersprüchliches Wesen hat es ihm, neben einer dezidiert katholisch-religiösen Grundhaltung, ermöglicht, sich einer Motivik - Schuld und Vergebung - sowie einer Thematik - der Vertreibung nämlich - zu nähern, die in den vergangenen Jahrzehnten in Böhmen in dieser Weise nicht ohne weiteres zu bearbeiten waren. Daß von dem bis heute offiziell als „Abschub“ bezeichneten Geschehen Tausende Menschen, die sich selbst nicht schuldig gemacht hatten, betroffen waren, wird der Öffentlichkeit nur langsam bewußt. In einem großen Interview mit Gernot Facius und Adelbert Reif in der Tageszeitung „Die Welt“ erinnert sich der Schriftsteller Ludvik Vaculik als Zeitzeuge: „Vor allem hatte ich nicht daran gedacht, daß, obwohl der Krieg längst beendet war, in unserem Land noch Orgien von Gewalt geschahen.“

Ein Wunder, daß dieser Roman die tschechischen Leser bereits 1969 erreichen konnte.

Es gereicht den Herausgebern der neuen Reihe „Tschechische Bibliothek“ zur Ehre, daß sie den editorischen Beginn dieser Serie mit Jaroslav Durychs Requiem auf ein jahrhundertelanges Zusammenleben von Deutschen und Tschechen beginnen. Der Essay von Jan Patocka, der diesen Roman zusammen mit Frank Boldt ins Deutsche übersetzt hat, enthält den philosophisch-geschichtlichen Hintergrund der schriftstellerischen Arbeit von Jaroslav Durych. Patocka, wie kaum ein zweiter versiert in den widersprüchlichen Zusammenhängen des deutsch-tschechischen Miteinanders, war als Student Meisterschüler bei Edmund Husserl, bevor beide die politische Wirklichkeit eingeholt hatte. Wohl auch weil Patockas offizielle Lehrmöglichkeiten in der kommunistischen Zeit in Böhmen - mit Ausnahme der Monate des Prager Frühlings 1968 - stark beschränkt wurden, galt er als unbestechliche moralische Größe. Jan Patocka starb als einer der ersten Sprecher der Bürgerrechtsbewegung Charta 77 nach stundenlangem Verhör durch die Geheimpolizei.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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