Eine Rezension von Grace Maier


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Familienbande

 

Carola Dunn: Miss Daisy und der Mord im Flying Scotsman
Roman. Aus dem Englischen von Carmen v. Samson Himmelstjerna.

Rütten & Loening, Berlin 1999, 239 S.

 

 

Die Sorte Kriminalgeschichte, die Agatha Christie zwar nicht erfunden, aber bis ins Absurde entwickelt und durchgespielt hat, ist schon so oft für out erklärt worden, wie sie sich beharrlich wieder zurückgemeldet hat. Sie scheint unsterblich - unausrottbar würden die Gegner dieser Art sagen, in der die Komplizierung und Geheimnistuerei so weit getrieben wird, daß am Ende nichts anderes bleibt, als jemanden zu bestimmen, der den staunenden Akteuren einen aus ihrer Mitte als Täter präsentiert. Aber man sollte nicht die Nase rümpfen: Diese Spezies Krimi hat ihre Meriten und natürlich ihre Leser nach wie vor, und das sind längst nicht nur Leute, die leicht zu unterhalten und allein damit zufriedenzustellen sind, daß man ihnen schlußendlich ordentlich was zum Wundern gibt; auch die Liebhaber des Nach- und Zurückdenkens kommen auf ihre Kosten. Zu fragen ist allerdings, ob man über der anstrengenden und angestrengten Lektüre beispielsweise Originalität der Sprache oder andere literarisch-ästhetische und formale Werte (falls vorhanden) noch wahrzunehmen vermag und ob in solchen reinen Ratespielen das Verbrechen, sofern beabsichtigt, als soziale Größe noch sichtbar zu machen ist.

Carola Dunn hat sich mit den bislang erschienenen drei Miss-Daisy-Fällen längst als Produzentin in der Christie-Nachfolge ausgewiesen, auch im Sinne der Befolgung tradierter Regeln. Bei ihrem jüngsten Krimi signalisiert sie ihre Affinität zu der legendären Queen of Crime bereits mit dem Titel. Oder gibt es jemanden, dem bei Miss Daisy und der Mord im Flying Scotsman etwa nicht der Mord im Orient Express einfiele?

Mit dem berühmten Luxuszug Flying Scotsman, der zwischen London und Edinburgh verkehrt, macht sich die blaublütige Journalistin Miss Daisy Dalrymple im Frühjahr 1923 auf den Weg nach Schottland, um für einen Artikel zu recherchieren. Es wird, wie vorherzusehen, eine Fahrt mit spektakulären Hindernissen. Bei ihrer unglaublichen Begabung, über Leichen zu stolpern, kommt der jungen Adligen natürlich auch hier eine in die Quere. Und zu allem Übel starb der designierte Erbe eines anscheinend beachtlichen Vermögens keines natürlichen Todes. Das nun bringt einen ganzen Familienclan in die Bredouille, denn, wie von einer „closed-room-story“ nicht anders zu erwarten, alle mitreisenden Mitglieder der Sippe hatten sowohl ein Motiv als auch eine Gelegenheit zum Mord. So weit, so kriminell. Doch zum Glück befindet sich ja die begnadete Amateurschnüfflerin Miss Daisy vor Ort, und wo sie ist, ist ihr Freund von Scotland Yard, Chief Inspektor Alec Fletcher, gewöhnlich nicht fern. Natürlich lösen sie gemeinsam auch diesen Fall - mit viktorianischem Charme und etwas weitschweifiger Methode.

Die Dunn bevorzugt - und folgt auch darin ihrem literarischen Vorbild - psychologisch verschlüsselte, kaum sozial motivierte Detektivgeschichten. Zwar tut sie einiges, die Handlung, in die sie ihre exzentrische Heldin diesmal verstrickt, wie mitten aus dem Leben der zwanziger Jahre erscheinen zu lassen, indem sie Zeit und Umstände nennt und charakterisiert, den Tatverdächtigen und Ermittlern (andere Figuren von Belang gibt es kaum) ein Stückchen Individualität anhängt, zum Beispiel die Heldin von ihrer aristokratische Herkunft und Erziehung emanzipiert und u. a. mit einem nicht standesgemäßen Verhältnis beglückt, überdies viel Dialog sprudeln läßt, aber es nützt ihr wenig: Die zahlreichen potentiellen Täter, die Verfolgung ihrer kreuz und quer webenden Verbindungen untereinander, ihre Familienbande und -abstammungen nehmen einen trotz der dem Text vorangestellten Stammbaumskizze im Lauf der Lektüre ziemlich in Beschlag und absorbieren viel Aufmerksamkeit - die für die Entlarvung möglicher Mordmotive hingegen nicht vonnöten ist. Die Dunn nämlich begnügt sich damit, den Familienmitgliedern der Reihe nach die Klinke zum Abteil des Erben in spe in die Hand zu geben - für einen „Tanz ums Goldene Kalb“. Auf diese Weise werden sie ziemlich eingleisig, um nicht zu sagen einfallslos, mit ein und demselben Mordmotiv belastet. Mit einer solchen Schmalspurversion vergibt sich die Autorin die Möglichkeit, die des Mordes verdächtigen Personen deutlicher voneinander abzusetzen, sie unverwechselbar zu gestalten, was ihr mit dem Ermittlungs-Dreamteam fraglos gelungen ist. Und obwohl sie sich andererseits viel Mühe macht, ein scheinbar unentwirrbares Knäuel von Spuren auszulegen (falschen und richtigen), braucht man nicht besonders denkmächtig zu sein, um das Rätsel zu lösen. Für einen Kenner und Liebhaber klassischer Krimis jedenfall ist die Handlung und das Finale beizeiten voraussehbar. Der nämlich weiß, daß es stets „the most unlikely person“ ist, auf die er sein Augenmerk richten muß. Und wer glaubte, daß das überkommene Schema wenigstens in dem einen Punkt außer Kraft gesetzt wurde, der hat sich eben geirrt.

So emanzipiert und unorthodox Miss Daisy nach dem Willen ihrer Schöpferin auch sein darf, eine furiose Mörderjagd wäre nicht ihr Stil. Wer mit ihr im Flying Scotsman Platz nimmt, den erwartet statt dessen ein alles in allem locker inszeniertes Rätselspiel von der leisen Art, dem etwas mehr Tempo und Raffinesse allerdings nicht geschadet hätte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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