Eine Rezension von Hans-Rainer John


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Der Kerker des Millionärs

 

T. Coraghessan Boyle: Riven Rock
Roman.
Aus dem Amerikanischen von Werner Richter.

Carl Hanser, München 1998, 568 S.

 

 

Es gibt Romane, die man in einem Zug liest, weil man am Thema und am Schicksal der Figuren lebhaften Anteil nimmt, jede notwendige Unterbrechung empfindet man dann als Störung. Andererseits gibt es Romane, die zu Distanz nötigen, weil die dort behandelten Probleme wenig Relevanz für das eigene Leben haben, die Lektüre schreitet dann weit gemächlicher voran.

Wenn ich bekenne, daß Riven Rock für mich zu letzteren gehört, ist damit wohl etwas über den Inhalt gesagt - die dreiundzwanzigjährige Krankengeschichte eines amerikanischen Millionärs, der an sexual-hypochondrischer Neurastenie und inzipienter Dementia praecox leidet und der auf Riven Rock („Der entzweigespaltene Fels“), einem burgähnlichen Besitztum in Kalifornien mit 35 Hektar Park und Blick auf den Pazifik, isoliert und von 50 Bediensteten betreut wird, darunter hochspezialisierte und teure Ärzte - aber damit ist noch kein Qualitätsurteil gefällt.

Nein, Boyle (51), Universitätsprofessor in Los Angeles und einer der wichtigen Romanciers des heutigen Amerika (bei uns bisher erschienen: Wassermusik, World’s End, Grün ist die Hoffnung, Wenn der Fluß voll Whisky wär, Der Samurai von Savannah, Willkommen in Wellville, Tod durch Ertrinken und América), ist hier absolut auf der Höhe seiner Kunst. Er ist ein wundervoller Erzähler, weiß eine Geschichte meisterlich zu strukturieren und jene Figuren, auf die es ihm ankommt, plastisch zu schildern (die anderen, die ihm nicht so interessant sind, werden dagegen souverän vernachlässigt), seine Sprache ist kräftig, bildhaft und anspruchsvoll. Allein der Stoff, zu dem er diesmal gegriffen hat, enthält kaum Figuren, die den heutigen Leser packen oder ihm in irgendeiner Weise nahestehen.

Dabei geht es offenbar um eine wahre Geschichte. Auf dem Schutzumschlag prangt das Hochzeitsbild von Stanley McCormick und Katherine Dexter von 1904, und als Quelle wird die McCormick Collection der State Historical Society von Wisconsin angegeben. Über Quellenlage und Recherchen, über Dichtung und Wahrheit wird keine Auskunft erteilt, es kann aber wohl als gesichert gelten, daß an der Jahrhundertwende die traditionell millionenschweren Dexters und die seit kurzem hochgekommenen und inzwischen noch weit reicheren McCormicks (der Vater Stanleys gilt als Erfinder des Mähdreschers) tatsächlich existiert haben und daß sich zwei ihrer hoffnungsvollen Sprößlinge - beide etwa 30 Jahre alt, gut aussehend, groß, kräftig, gebildet - durch das Ja-Wort miteinander verbanden. Kurz danach muß die Krankheit bei Stanley akut geworden sein, und wenig später blieb wohl schon kein anderer Ausweg mehr als die Isolierung auf Riven Rock (eine Lösung, die schon bei Stanleys Schwester Mary Virginia notwendig wurde) und 1909 dann die Entmündigung.

Eine Welt von Mauern, Riegeln und Eisengittern wird nun geschildert, die Höhen und Tiefen des Krankheitsverlaufes werden nachgezeichnet, das Kommen und Gehen der Ärzte mit ihren unterschiedlichen Methoden (der eine Primatenforscher, der andere klassischer Freudianer), Hoffnung und Entmutigung, das Zusammensein mit den Pflegern - eine Männerwelt insgesamt, denn das weibliche Geschlecht war der Besonderheit der Krankheit entsprechend von Riven Rock verbannt. Auch mit der eigenen Ehefrau waren Stanley nur Telefongespräche möglich, bis nach zwanzig Jahren endlich ein neuer Arzt, Dr. Kempf, die persönliche Konfrontation verantwortete, auch eine Krankenschwester dem Team einfügte und eine Köchin einstellte. Drei Jahre später freilich galt auch dieser Versuch als gescheitert. Die Hoffnung auf Genesung wurde begraben. Ein Nachwort informiert, der Patient sei schließlich im Alter von 72 Jahren gestorben, ohne je wieder die Freiheit erlangt zu haben. Sein persönliches Vermögen war unterdessen von 6 auf 34 Millionen Dollar angewachsen.

Der Autor wußte freilich nur zu gut, daß die Krankengeschichte allein noch keinen Roman abgab, und so hat er wirksam zwei andere Bestandteile eingefügt: die Geschichte von Stanleys Ehefrau Katherine und die Geschichte des Oberpflegers Eddie O’Kane.

Katherine bewahrt über all die vielen Jahre hin ihrem Mann Treue und Zuneigung; andere Männer gibt es in ihrem Leben nicht, und an Rettung und Heilung glaubt sie unerschütterlich. Sie wehrt alle Versuche der auf Zusammenhalt des Familienvermögens bedachten McCormicks ab, auf Scheidung und Abfindung zu drängen, und sie kämpft (erfolglos) um das alleinige Vormundschaftsrecht für ihren Mann. Für das Frauenrecht streitend, wird sie zur Suffragette - das allerdings wird nur angedeutet und ebensowenig konkretisiert und nacherlebbar wie die Liebesbeziehung zu Stanley. Natürlich wird Katherine anfangs geblendet durch sein gutes Aussehen, seine sportlichen Fähigkeiten, seine künstlerischen Neigungen, durch Höflichkeit, Anstand und Hilfsbereitschaft. Aber schon damals war Stanleys Persönlichkeit seltsam gebrochen, an Warnungen und Ausrufezeichen hat es nicht gefehlt. Unkontrollierte Handlungen und unberechenbare Reaktionen hatten schon zur Auflösung der Verlobung und Katherines atemloser Flucht nach Europa geführt. Was dann zu einer überstürzten Hochzeit bewegte und notwendig in eine katastrophale Hochzeitsnacht mündete, bleibt unerklärlich und nicht nachvollziehbar: Ein wirkliches Liebespaar waren die beiden nie. (Insofern ist die „anrührende Liebesromanze“, von der Publishers Weekly schwärmt, für mich ein Fehlurteil.)

Am berührendsten ist wohl das Schicksal von Edward O’Kane, der sein Leben dreiundzwanzig Jahre lang treu und nicht ohne Verständnis und Zuneigung an der Seite des Millionärspatienten gestalten muß, so daß sich letztlich die Frage ergibt, wer hier wohl der Gefangene und wer der Wärter ist. Einen Ausweg findet der lebenskräftige Hallodri einerseits im Trunk und andererseits in wilder Sexualität, die ihm nach seiner sinnlichen, aber primitiv-ungebildeten Ehefrau Rosaleen zunächst die gelangweilte Dolores Isringhausen aus der Oberschicht und schließlich die temperamentvolle Italienerin Giovanella Dimucci an die Seite führt, die mit ihrer Rasanz, Hingabe und Unbedingtheit alle Maßstäbe sprengt, ihm die großen Prüfungen auferlegt, am Ende aber die große Befriedigung gewährt. In diesen Passagen pulst das wahre Leben, von dem die Mauern von Riven Rock hermetisch abschirmen und das auch die Szenen um Katherine kaum einbringen.

Die Übersetzung Werner Richters ist übrigens vorzüglich und Satz und Druck erstklassig (und weitgehend fehlerfrei). Des Schutzumschlags wegen (Peter-Andreas Hassiepen) würde ich freilich kaum zu dem Buch greifen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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