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Klaus Hammer

Die Ironie der Geschichte oder Die Kunst des Überlebens

Zu Besuch bei dem estnischen Schriftsteller Jaan Kross in Tallinn

 

Ziemlich ratlos stehe ich im Hof des Gebäudes, in dem sich die Wohnung des Schriftstellers befinden soll. An den Eingängen nur Nummern- statt Namensschilder. „Ach, Sie wollen zu unserem Jaan Kross?“ fragt mich eine Frau und weist auf die oberste Wohnung unter dem Dach. Nachdem mir Ellen Niit-Kross, die Frau von Jaan Kross, selbst eine bekannte Lyrikerin, den Schlüssel heruntergeworfen hat, kann ich vom Arbeitszimmer einen herrlichen Blick auf die altehrwürdige Nikolaikirche und den dahinter liegenden Domberg genießen.

Hier, im Herzen der alten Hansestadt Reval, lebt das Schriftsteller-Ehepaar die eine Hälfte des Jahres, die andere Hälfte in einem Bauernhaus auf einer Ostseeinsel nahe Dagö vor der Küste Estlands.

Eigentlich wollte der ins 80. Lebensjahr tretende Autor Wissenschaftler werden. Aber 1946 wurde der damalige Jura-Dozent an der Universität Dorpat (Tartu) von den Sowjets wegen seiner Kontakte zu bürgerlichen Nationalisten während der deutschen Besatzungszeit - bereits die Deutschen hatten ihn schon einige Monate in Haft genommen - zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt und bis 1954 in die sibirische Verbannung geschickt. Nach seiner Rückkehr in die Heimat trat er zunächst als Lyriker hervor. Doch mit den Vier Monologen Anno Domini 1506 nahm er 1969 den Dialog mit der estnischen, mit der europäischen Geschichte auf, der seitdem nicht mehr abbrechen sollte. Mit einem Dutzend historischer Romane und noch mehr Erzählungen gilt er als der bedeutendste lebende Schriftsteller Estlands und ist seit 1990 mehrfach auch als Anwärter für den Literatur-Nobelpreis im öffentlichen Gespräch gewesen.

Gerade in der - äußeren wie inneren - Emigration sind in unserem Jahrhundert immer wieder historische Romane geschrieben worden. Auch Kross hat zunächst für die eigene Situation historische Parallelen gesucht, um die Relativität der eigenen Lage zu erkennen. Für ihn ist Estland mit seinen geistigen Zentren Tartu und Tallinn immer ein Schmelztiegel der Ost-West-Auseinandersetzungen gewesen. Es war Spielball der europäischen Mächte: Hier übte die deutsche Ritterschaft bis weit ins 19. Jahrhundert eine politische Hegemonie aus.

Seit Peter dem Großen befand sich Estland unter russischer Herrschaft, und es wurde, nach einem kurzen Zwischenspiel staatlicher Unabhängigkeit, dann erneut als Teilrepublik in die UdSSR eingefügt. „Wenn man nicht gerade versteckter Heimatforscher ist“, sagt Kross, „dann spielen in der Literatur immer kontinentale Probleme eine Rolle.“ Es geht ja auch nicht um die dargestellte Geschichte, um Dokumentierung allein, sondern um die Freiheit des Autors, die Fakten zu vervollständigen und mit eigenen Reflexionen zu ergänzen. Geschichte ist gleichnishafter Spiegel des gegenwärtigen und damit Vorausdeutung eines möglichen zukünftigen Geschehens. Und zu einem menschlichen Leben gehören ja nicht nur die äußerlichen Ereig nisse, die sichtbaren Vorfälle, auch die Träume und Wünsche haben Realität. Ein Mensch ist nicht nur allein das, was aus ihm geworden ist, sondern auch das, was aus ihm hätte werden können. So kann die Fiktion also „wahrer“ sein als der Bericht über sich selbst. „Deshalb suche ich auch meine Helden in Situationen zu bringen, die erhellenden Charakter für die estnische Geschichte haben.“

So gab er historischen Figuren wie Balthasar Russow, Michael Sittow, Johan Michelson oder dem Maler Johan Köler ihre estnische Identität zurück - eine Identität allerdings, die Brüche aufweist, denn sie ist aus dem Kompromiß geboren. Kross’ Protagonisten sind Grenzgänger zwischen den Welten, zwischen Ständen und Nationen, Bewohner einer Zwischenwelt. Sie haben sich anzupassen, den Mächtigen unterzuordnen - und müssen dennoch widerstehen. So hat er die Kunst des Überlebens in ungünstigen, konfliktreichen Zeiten immer wieder neu thematisiert. „Wenn man mich Gewissen des Volkes nannte, so betrachte ich eine solche Formulierung als Freiheit des Kritikers. Als man mich aber als Schriftsteller des Kompromisses bezeichnete, habe ich mich widersetzt. Ich bin eher ein Analytiker des Kompromisses.“

Flug auf der Stelle lautet der Titel seines jüngsten Buches. Es ist der autobiographische Bericht eines seiner Mitschüler, dessen Leben seismographisch ein Stück estnische Geschichte von den 20er bis zu den 80er Jahren einfängt. Dieser Mitschüler, selbst schriftstellerisch hochbegabt, erschien ihm als paradigmatischer Fall: Er war ein enger Mitarbeiter der drei letzten estnischen Premierminister gewesen, hatte ein Stück Jahrhundertgeschichte mitgeschrieben und lebte dann später unbekannt und unerkannt, ging in einer kleinen Kofferfabrik unauffällig seiner Arbeit nach.

Kross, der Mitverfasser der Erklärung zur estnischen Selbständigkeit vom 2. Februar 1990 war, hat mit seinen Arbeiten schon in der einstigen Sowjetrepublik Estland große Resonanz gefunden - viele sind auch ins Russische übersetzt worden. Seinen 1978 erschienenen Roman Der Verrückte des Zaren, die Geschichte von Timotheus von Bock, der die Tochter eines Kutschers heiratet und allen folgenden Anfeindungen der adligen Gesellschaft widersteht, haben die Bürgerrechtler Jelena Bonner und Andrej Sacharow in der Verbannung in Gorki als russische Unterdrückungsgeschichte gelesen. Und paradoxerweise aus dem Russischen sind dann auch manche seiner Romane ins Deutsche übersetzt worden und in der DDR erschienen.

Gerade heute kann Estland, können die baltischen Staaten eine wesentliche Vermittler- und Katalysatorenrolle in der Ost-West-Verständigung leisten. „Was den Beitritt zur Europäischen Union anbelangt, so müssen wir Esten in Kultur und Sprache unsere soeben erst wiedererlangte Freiheit behaupten. Brüssel soll ruhig entscheiden, ob die Schweine geklont werden sollen oder nicht, aber unsere sprachliche und kulturelle Integrität muß uns überlassen bleiben.“ So wie das elfhundertjährige Reval-Tallinn geographisch und kulturhistorisch - im Guten wie im Bösen - ein Modell für das Zusammenleben unterschiedlicher Nationalitäten und Völker war, so kann es als europäische Hauptstadt diese Brückenfunktion auch heute wahrnehmen. „Wie weit es die Geschichte mit ihrer Ironie treiben kann, veranschaulichen manchmal winzige, unwiderlegbare Tatsachen“, sagt Kross. Man könne die Ironie bis zu Formen treiben, die bei einem Schriftsteller als unverzeihliche Übertreibungen gelten, in der Geschichte aber wohl „geniale Hyperbeln“ genannt werden müssen. Das Aufzeigen solcher Möglichkeiten, aber auch die illusionslose Selbstbetrachtung und Selbstbehauptung seiner Figuren können dem estnischen wie dem deutschen, dem europäischen Leser von Nutzen sein.

Klaus Hammer


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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