Eine Annotation von Gisela Reller


Potok, Chaim: Novembernächte

Die Geschichte der Familie Slepak.
Aus dem Amerikanischen von Gabriele Pauer.

Paul Zsolnay Verlag, Wien 1998, 389 S.

 

Das authentische Schicksal der Familie Slepak spiegelt die tragische Geschichte der russischen Juden in diesem Jahrhundert wider. Das Buch Novembernächte über das Leben der Slepaks ist in zwei Teile gegliedert und erzählt in dem ersten Teil die Geschichte des Vaters und in dem zweiten die des Sohnes. Der Vater, Salomon Slepak, verließ 1913 seine belorussische Heimat, auch, weil er sich dort vor den antisemitischen Pogromen nicht mehr sicher fühlte. Er gelangte bis nach Amerika. Ausgerechnet hier begeisterte er sich für den Kommunismus. Als in Rußland die Revolution ausbrach, schlug er sich über den Fernen Osten bis nach Moskau durch. Als fanatischer und gnadenloser Bolschewik stieg er - mit viel Blut an den Händen - bis in die höchsten Machtorgane auf. Sein Sohn, Wladimir Slepak, und dessen Frau Mascha wollten den Antisemitismus und die Menschenrechtsverletzungen des sowjetischen Regimes nicht akzeptieren und stellten 1970 einen Ausreiseantrag nach Israel. Das konnte der Altbolschewik Slepak nie verzeihen, es kam zum Bruch zwischen Vater und Sohn. Der Ausreiseantrag der Slepaks wurde 17 Jahre später genehmigt. Da war Wladimir sechzehnmal verhaftet worden, hatte immer wieder die Arbeitsstelle verloren und war für fünf Jahre in ein achttausend Kilometer von Moskau entferntes burjatisches Dorf verbannt worden; Mascha war ihm todesmutig gefolgt.

Chaim Potok - seine Vorfahren waren vor dem osteuropäischen Antisemitismus in die USA geflohen- ist in New York geboren worden, studierte Englische Literatur und Philosophie und wurde zum Rabbiner ausgebildet. Er lebt heute in Pennsylvania und zählt zu den bedeutendsten jüdischen Romanciers der amerikanischen Literatur.

Novembernächte macht auf eindringliche und zugleich spannende Weise deutlich, wie sehr die Juden nicht nur unter der Zarenherrschaft drangsaliert und verfolgt wurden, sondern auch unter der Sowjetmacht. Die Slepaks hatten in der neuen Heimat ihr Leben auf Tonband aufgezeichnet. Diese Familienchronik hat Potok fast sachlich nacherzählt. Durch den Verzicht auf dichterische Ausschmückung ist das Buch besonders packend. Ich finde neben dem außerordentlich aufregenden Leben der drei Slepaks besonders interessant, erstmals in deutscher Sprache so faktenreich über die russisch-jüdische Dissidentenbewegung informiert zu werden.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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