Eine Rezension von Horst Möller


Wenn Dichter ihren Schritten nachsinnen ...

Peter Peter: Sizilien

Literarische Entdeckungen im Land, wo der Teufel sein Weib nahm.

Klett-Cotta, Stuttgart 1997, 218 S.

 

Wenn Dichter ihren Schritten nachsinnen, grüßt manchmal ein stilles Tal als „anmutig“ und „immergrüner Hain“ wider. Die Erinnerung, die Johann Wolfgang Goethe einst Palermo stiftete, ist anderer Art. „Woher kommt die Unreinlichkeit eurer Stadt?“ hält er unterm Donnerstag, dem 5. April 1787, in der „Italienischen Reise“ seinen Dialog mit einem kleinen Handelsmann fest. Der antwortete, „daß gerade die, welche für Reinlichkeit zu sorgen hätten, wegen ihres großen Einflusses nicht genötigt werden könnten, die Gelder pflichtmäßig zu verwenden ... nach weggeschafftem misthaftem Geströhde werde erst deutlich zum Vorschein kommen, wie schlecht das Pflaster darunter beschaffen sei ... der Adel erhalte seinen Karossen diese weiche Unterlage, damit sie des Abends ihre herkömmliche Lustfahrt auf elastischem Boden bequem vollbringen könnten“. Doch zum Trost habe der Mensch noch immer Humor genug, „sich über das Unabwendbare lustig zu machen“.

Einer, dem es bei seinem Spaziergang nach Syrakus (1803) dennoch die gute Laune verhagelte, war Johann Gottfried Seume: „Nie habe ich eine solche Armut gesehen ... hätte in diesem Augenblick alle sizilischen Barone und Äbte mit den Ministern an ihrer Spitze ohne Barmherzigkeit vor die Kartätsche stellen können.“ Den gesetzmäßig folgenden Aufstand von 1860, der dank der Fanfaren Garibaldis siegreich endete, kommentierte Karl Marx: „In der ganzen Geschichte der Menschheit hat kein Land und kein Volk so fürchterlich unter Sklaverei, Eroberungen und fremder Unterdrückung gelitten, hat kein Land und kein Volk so tapfer für seine Emanzipation gekämpft wie Sizilien und die Sizilianer.“ Die „Literarischen Entdeckungen im Land, wo der Teufel sein Weib nahm“, sind also einerseits darauf gerichtet, aus einer verwirrenden Zahl literarischer Äußerungen über Sizilien herauszufiltern, was dieser einzigartigen Kulturlandschaft ihre Identität verschafft, zum anderen können sie als Exempel dienen.

Zu Wort kommen vor allem Schöngeister der Insel selbst, und Berühmtheiten aus vieler Herren Länder werden mit einbezogen, um - von Ort zu Ort wechselnd - Eigenheiten sizilianischer Lebensart zu benennen. So wird Alltags-Assenteismo geltend gemacht für Palermo, wo selbst der letzte Straßenkehrer den Respekt der Freunde verlöre, wenn er nicht während der Arbeitszeit seinen Kaffee trinken ginge. Pappagallismo, das Geschwätz über Frauen, das vergnüglicher ist als der Umgang mit ihnen, scheint in Catania vorzüglich zu gedeihen. Aus der Barockstadt Bagheria wird als charakteristische Episode zitiert, daß da eine Wäscherin kündigte, weil ihr Dienstherr sich mit ihr allein im Zimmer aufgehalten hatte und sie somit kompromittiert war: eine Achtzigjährige. Insgesamt sei Sizilien jedoch ein sicheres Land, in dem der/die Fremde in allen sozialen Schichten als Gast geachtet werde. Für jede dieser Aussagen gibt es entsprechende literarische Belege, hin und wieder auch einen Gegenbeleg. Da ist die Rede von der Mafia, die einerseits „immer ein Bollwerk gegen kommunistische Machtübernahme bildete“, andererseits ein „philosophisches Phänomen“ darstelle. Über Tomasi di Lampedusas berühmten Roman Der Leopard ist erst zu erfahren, daß „die Wertung Siziliens, die der Leopard vornimmt, illusionslos“ sei, dann steht, daß dieser Klassiker eine Zeitlang durch seine millionenfache Verbreitung ein einseitiges, zu gefälliges Sizilienbild heraufbeschworen habe. Indessen bestehe Gelegenheit (Lara Cardella, Dacia Maraini) zu lernen, „auch mit negativen Sizilienbildern umzugehen, statt sie zu verdrängen“.

Aufs Ganze gesehen, ist der Münchener Philologe und Italienkenner Peter Peter darauf aus, etwas vom Charme dieser Insel spüren zu lassen. Nachdrücklich werden die Glanzzeiten Siziliens vor Augen geführt: Antike und Hohes Mittelalter. Um 600 v. u. Z. fand Sappho, von ihrer Heimatinsel Lesbos vertrieben, Zuflucht in Syrakus und wurde im „New York der Antike“ ihrer dichterischen Begabung gewahr. Vor Platon kam auch Aischylos nach Syrakus; was Kasimir Edschmid hierüber befindet, bleibt allerdings ausgespart, nämlich: „Während die Syrakusaner in ihrem offenen Theater saßen und die Aufführung der ,Perser‘ genossen, die Äschylos persönlich in Szene gesetzt hatte, standen Tausende von gefangenen Griechen, die den Kampf gegen Syrakus verloren hatten, auf der anderen Seite der Felswand und hämmerten in der grausam herunterbrennenden Sonne Steine aus dem Felsen.“ Das antike Theater und die „Steinbruchzuchthäuser“ unmittelbar daneben sind gut erhalten. Davon, daß es dem einen vergönnt ist, an stets gleichen Tagen die Sonne, „ein tränenloses Leben“ zu genießen, während „die andern aber eine Qual schleppen, nicht anzusehen“, wußte ein weiterer aus Athen Zugereister im Lied auf den Herrscher des benachbarten Akragas (Agrigento) zu singen. Für Pindar werden mit Friedrich Hölderlin, Franz Dornseiff und Eckart Peterich gleich drei Übersetzer erwähnt (aber leider nicht bibliographisch nachgewiesen). Auch sonst hätte auf das eine oder andere zu beflissene literaturgeschichtliche Detail durchaus zugunsten weggelassener Ortshinweise (der Chorlyriker Stesichoros lebte in Himera) verzichtet werden können.

Um sich über die Topographie den Dichtern zu nähern (und umgekehrt), erweist sich ferner das 10. bis 13. Jahrhundert als ergiebiges Feld. Sizilien, damals „das modernste Land Europas und eine Keimzelle der italienischen Kultur“, repräsentieren in den „Entdeckungen“ Ibn Hauqal, Ibn Hamdis, Abd ar-Rahmân, al-Mutaqqib, der das Arabische beherrschende, dichtende Kaiser Friedrich II., sein Sohn Enzio u. a. Allerdings werden auch hier Perlen verschenkt, wie z. B. Ibn Gubair: „Sizilien ist bevölkert von Kreuzanbetern, die sich eines angenehmen Lebens erfreuen. Sie behandeln die Muslime gut und gehen anständig mit ihnen um.“ Später bleibt die Insel im Wettbewerb mit den autonom produzierenden Städten Nord- und Mittelitaliens zurück und wird seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine der rückständigsten und abgelegensten Regionen, ohne total zu veröden: Erinnert sei an Vincenzo Bellini, Giovanni Verga, Luigi Pirandello, Salvatore Quasimodo, Leonardo Sciascia, Giuseppe Fava.

Wenn man sich für die Reise durch Sizilien dem wegekundigen Peter Peter anvertraut, endet diese Tour also keineswegs in einer verklärten archaischen Welt der Hirten oder vor den prächtigen, nun vor sich hin bröckelnden Palazzi und Opernhäusern aus versunkener Zeit, sondern man findet sich - mit lohnender Ausbeute - recht bald vor der eigenen Haustür wieder. Zu bemängeln gibt es an diesem unterhaltsamen Reisebegleiter verquere Formulierungen (Händels Kurzoper „Acis“, „in der er das Liebesleben des Kyklopen an Galatea vertont“; „neben Schäferidyllen klingt auch Sozialkritik an“) und das unvollständige Quellenverzeichnis.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 5/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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