Eine Rezension von Herbert Mayer


Die Sowjetunion, die DDR und die Juden

Arno Lustiger: Rotbuch: Stalin und die Juden
Die tragische Geschichte des Jüdischen Antifaschistischen Komitees und der sowjetischen Juden.
Aufbau-Verlag Berlin 1998, 429 S.

Angelika Timm: Hammer, Zirkel, Davidstern
Das gestörte Verhältnis der DDR zu Zionismus und Staat Israel.
Bouvier Verlag, Bonn 1997, 614 S.

 

Publikationen über das Leben der Juden waren früher in den Ländern des Realsozialismus stets eine heikle Angelegenheit, gerieten faktisch zum Tabu. Das hat sich geändert, zumal auch einst verschlossene Archivquellen zugänglich sind. Aus der in der letzten Zeit erschienenen Literatur seien zwei Bücher, die aus unterschiedlichen Sichten und zu unterschiedlichen Aspekten geschrieben wurden, vorgestellt.

Der erstgenannte Titel knüpft an Ilja Ehrenburg an. Er hatte 1943 vorgeschlagen, die Heldentaten jüdischer Sowjetsoldaten im Kampf gegen den deutschen Faschismus in einem Rotbuch zu dokumentieren. An jüdische Frontsoldaten waren zu diesem Zeitpunkt seit Kriegsbeginn über 30 000 sowjetische Kriegsauszeichnungen und -medaillen verliehen worden. Am Kriegsende sollte es über 160 000 Orden und Auszeichnungen sein. Über 500000 Juden kämpften in den Reihen der Roten Armee, 30 000 in sowjetischen Partisanengruppen.

Ziel des Autors ist es, gegen Legenden anzugehen. Zum einen wendet er sich dagegen, den Anteil jüdischer Bürger am Kampf der Sowjetarmee gegen den deutschen Faschismus (Legende von der „jüdischen Drückebergerei“) herabzuspielen. Zum anderen widerlegt er, daß die Juden den nazistischen Holocaust widerstandslos hinnahmen (die Lüge, daß sie „ohne jeglichen Widerstand in die Gaskammern gegangen sind“).

Lustiger selbst ist Jahrgang 1924 und in Polen geboren. Er überlebte die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald. Nach dem Krieg lebt er in Frankfurt am Main als Schriftsteller und Publizist. Dort gehörte er zu den Mitbegründern der Jüdischen Gemeinde und ist heute Ehrenvorsitzender der Zionistischen Organisation in Deutschland. Seine Publikationen hatten wiederholt Themen des jüdischen Lebens vor und während des Zweiten Weltkrieges zum Gegenstand. 1991 erschien der Band Schalom Libertad, in dem er sich mit der Teilnahme von Juden am Spanischen Bürgerkrieg befaßt. 1994 behandelt er in seinem Buch Zum Kampf auf Leben und Tod! den Widerstand der Juden von 1933 bis 1945.

Das Vorwort des vorliegenden Buchs stammt vom russischen Literaturwissenschaftler Efim Etkind (u.a. Unblutige Hinrichtung. Warum ich die Sowjetunion verlassen habe, 1981). Lustiger behandelt - nach einem kurzen Überblick über die Geschichte der russischen Juden und ihrer Organisationen vor der Oktoberrevolution - die Tätigkeit und Aktivitäten jüdischer Organisationen in der Sowjetunion seit der Revolutions- und Bürgerkriegszeit. Im Zentrum steht das Jüdische Antifaschistische Komitee. Zu den Vorzügen des Bandes gehört ohne Zweifel, daß erstmals viele Dokumente in deutscher Übersetzung dem Leser erschlossen werden. Deutlich wird die gegenüber den Juden widerspruchsvolle Politik der sowjetischen Führung. Auch wenn Stalins Politik anfangs frei von Antisemitismus war, änderte sich dies im Laufe der Jahre. Der Höhepunkt wurde wohl in den Jahren 1948 bis 1953 erreicht. Dem großen Terror 1936-1938 fiel fast die gesamte jiddische Publizistik zum Opfer. Jüdische Verlage, Schulen, Zeitungen, Theater, Institutionen und Einrichtungen wurden schrittweise liquidiert. Das betraf auch das Jüdische Autonome Gebiet Birobidshan, deren Führung Opfer der Säuberungen wurde.

Der Weltkrieg unterbrach offenbar die Repressionen gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Im April 1942 wurde die Gründung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees bekanntgegeben. Die sowjetische Führung eröffnete den sowjetischen Juden begrenzte Freiräume, ihre Kultur zu entwickeln und Kontakte ins Ausland zu knüpfen. Als Hauptziel gab das Komitee an, Juden in allen Ländern zum aktiven Kampf gegen den Faschismus zu gewinnen und unter ihnen eine Kampagne zur Hilfe für die Sowjetunion und die Rote Armee zu entfalten. Es leitete daraus zwei Aufgaben ab: „den Juden der ganzen Welt das zutiefst verbrecherische Wesen des Faschismus und die ganze Entsetzlichkeit seiner Bestialität gegenüber der jüdischen Bevölkerung in den zeitweilig besetzten sowjetischen Gebieten und den okkupierten Ländern vor Augen zu führen“ und „den jüdischen Volksmassen“ am Beispiel der Tapferkeit „der Sowjetvölker, darunter auch der sowjetischen Juden“ zu zeigen, wie man gegen den Faschismus kämpfen müsse.

Zu einem der größten Vorhaben des Komitees gehörte, Dokumente über die Vernichtung der Juden in den besetzten Ländern zu sammeln und zu veröffentlichen. Diese Dokumentation wurde als Schwarzbuch bezeichnet und sollte in mehreren Ländern erscheinen. Da nach Kriegsende seitens der Sowjetführung daran kein Interesse bestand, wurde es in der Sowjetunion nicht veröffentlicht und nur im Ausland seit 1946 (zunächst in den USA als Black Book. The Nazi Crime against the Jewish People) publiziert. Im Herkunftsland konnte es erst nach 1990 veröffentlicht werden. Die deutsche Fassung gab 1994 Lustiger selbst heraus. Es enthält auch erstmals das Original des von Albert Einstein geschriebenen Vorworts.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in der Sowjetunion eine antizionistische und antisemitische Kampagne im Zeichen des Kampfes gegen den Kosmopolitismus und einer befürchteten Verschwörung jüdischer Ärzte inszeniert. Die Widersprüchlichkeit der Politik der Sowjetführer zeigte sich darin, daß sie sich zur gleichen Zeit diplomatisch-politisch für die Schaffung eines selbständigen jüdischen Staates (Israel) einsetzten. Ende 1948 wurde die Führung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees verhaftet und das Komitee verboten. Dies und die Geschehnisse um den erst 1952 geführten Prozeß blieben lange im dunkeln. Der Prozeß wurde fast gleichzeitig mit dem öffentlichen Schauprozeß gegen Slansky in Prag, dessen Angeklagte zum Großteil Juden waren, geführt, fand aber im Unterschied zum Prager Prozeß als Geheimprozeß statt. Rehabilitiert wurde das Komitee erst 1989. 1994 wurden auch die Protokolle des Prozesses publiziert.

Antisemitismus gehörte nach Ansicht des Autors auch nach Stalins Tod zum „Arsenal der sowjetischen Politik“. Dafür führt er Schriften, Kampagnen und Maßnahmen an, die er als judenfeindlich bewertet, der „regierungsamtliche Antisemitismus“ habe bis zum Ende der Sowjetunion kontinuierlich zugenommen, bis die Perestroika die Wende brachte. Diese Sicht resultiert daraus, daß die Zeit nach Stalin insgesamt undifferenziert als relativ kontinuierlich und ungebrochen dargestellt wird. Jedoch hütet sich Lustiger konsequent vor einem: die Politik der Sowjetunion und Nazideutschlands gegenüber den Juden gleichzusetzen. „Im Gegensatz zum allumfassenden Rassenwahn Hitlers, welcher in jedem Menschen mit jüdischem Blut einen Feind sah, der vernichtet werden mußte, wollte Stalin den jüdischen Nationalismus und den Kosmopolitismus ausrotten.“

Breiten Raum nehmen im Teil „Die Menschen“ Einzelschicksale und biographische Details ein. Dieser Teil und der Anhang erweisen sich bei einigen Abstrichen durchaus als Fundgrube. Enthalten sind zahlreiche Kurzbiographien über russisch-sowjetische Juden. Leider enthalten manche Biogramme im Detail Ungenauigkeiten, Auslassungen oder Fehler. Aufgeführt werden des weiteren Namenslisten von Mitgliedern des Jüdischen Antifaschistischen Komitees bzw. seines Präsidiums, von ermordeten, gefallenen und repressierten jiddischen bzw. jüdischen Schriftstellern und Publizisten, von 305 jüdischen Generälen und Admirälen. Nützlich sind die Auswahlbibliographien am Ende des Bandes.

Auch der Titel des zweiten Bandes hat sein Vorbild. Timm lehnt sich damit bewußt an David Rapoports Hammer, Sichel, Davidstern an, eines der Bücher, die sich vor allem mit der Situation der Juden in der Sowjetunion befassen. Die Autorin, Jahrgang 1949 und Dozentin am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität, hat sich durch einschlägige Publikationen - u. a. Israel. Die Geschichte des Staates seit seiner Gründung (gemeinsam mit Johannes Glasneck) als profunde Kennerin der Thematik ausgewiesen. Das Studium der Hebraistik/Arabistik und längere Aufenthalte in den Ländern des Nahen Ostens sowie Gastprofessuren und Studienaufenthalte (u. a. in Jerusalem und Baltimore) sorgten für das sichere Erfahrungs- und Wissensfundament. Die Recherchen zum vorliegenden Band erfolgten in den Archiven der Bundesrepublik, der USA und Israels. Das erbrachte neue Fakten und ermöglichte neue Erkenntnisse. Dabei betreibt Timm keinen „Aktenfetischismus“ und vermeidet einseitige Interpretationen des Papiers, sie nutzt Methoden der „Oral history“, versucht, Querverbindungen herzustellen und Hintergründe aufzuzeigen.

Sie gliedert ihr Material in 14 Kapitel, in denen sie meist in chronologischer Folge das historische Geschehen behandelt, wobei die Chronologie stellenweise zugunsten der Sachthemen unterbrochen wird. In den einleitenden Abschnitten werden die Rahmenbedingungen für den Untersuchungsgegenstand abgesteckt (Ideologie und Pragmatismus, Einbindung in den Warschauer Vertrag, Nahostpolitik der Sowjetunion und deutsch-deutsches Verhältnis). Für die Nachkriegsjahre werden vorherrschende Traditionslinien, das Wiedererstehen jüdischer Gemeinden, die Debatten um Restitution und Wiedergutmachung, die Anfänge ostdeutscher Nahostpolitik und ihr antifaschistischer Ansatz untersucht. Die Darstellung macht ein Phänomen sichtbar: Die maßgebenden Politiker im Osten Deutschlands waren in der Zeit unmittelbar vor und nach Gründung der DDR durchaus bereit, die Schuld des gesamten deutschen Volks für die Verbrechen, die die Nazis an den Juden begangen hatten, anzuerkennen. Zwei Faktoren trugen maßgeblich dazu bei, daß sich dies änderte: zum einen die Einbindung und Einordnung der DDR in die Politik der Sowjetunion (vor allem gegenüber Israel), zum anderen die proarabischen Positionen der DDR-Führung und die Bewertung der Politik Israels gegenüber den arabischen Nachbarn. Den fünfziger Jahren ist vor allem der Abschnitt „Diplomatie und Abgrenzung“ gewidmet, in den sechziger Jahren werden schwerpunktmäßig der Eichmann-Prozeß, die DDR-Nahostpolitik angesichts der Hallstein-Doktrin und die Reaktionen auf den Sechstagekrieg 1967 erörtert. Für die siebziger und achtziger Jahre stehen das „Dreieck“ DDR-PLO-Israel und die „pragmatischen Annäherungen“ der DDR-Positionen an die Realitäten im Vordergrund. Mitte/Ende der achtziger Jahre gab es zaghafte Bestrebungen, die Beziehungen der DDR zu Israel zu normalisieren. Die letzte Volkskammer der DDR bekannte sich am 12. April 1990 zu deutscher Schuld, Verantwortung und Verpflichtung gegen über dem jüdischen Volk. Des weiteren hieß es u. a.: „Wir bitten das Volk Israels um Verzeihung für Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik gegenüber dem Staat Israel und für die Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger auch nach 1945 in unserem Land.“ Das Vorhaben, völkerrechtliche Beziehungen zu Israel aufzunehmen, endete alsbald, da mit dem 3. Oktober 1990 der Staat DDR nicht mehr existierte. In einem exkursorischen Kapitel wird der Außenhandel DDR-Israel behandelt, ein bisher kaum beachtetes Feld beiderseitiger Beziehungen. Abgeschlossen wird der Textteil mit einer Zusammenfassung zum Problemkreis „Antifaschismus, Antisemitismus und Antizionismus“.

Den Schwerpunkt der Untersuchung bildet das Verhältnis der DDR zu Schoah, Zionismus und zum Staat Israel. In diesem Rahmen geht Timm der Frage nach, ob es in der DDR Antisemitismus gab bzw. ob sich hinter antizionistischen Kampagnen Antisemitismus verbarg. Als wertvoll erweisen sich für den Leser auch die das eigentliche Thema nur tangierenden Passagen über die Darstellung der Judenverfolgung der Nationalsozialisten in der DDR-Historiographie, über die Nahostkriege, über die Auswirkungen des Slansky-Prozesses 1952 auf die DDR oder über Bestrebungen der Jüdischen Gemeinden um Wiedergutmachung. Die Autorin hebt hervor, daß aus dem Verhältnis der DDR zu den jüdischen Bürgern, zu Zionismus und zu Israel kein „wie immer geartetes Gleichheitszeichen zum faschistischen Staat und dessen Judenpolitik konstruiert“ werden darf.

Der Band schließt mit Anmerkungen, Auswahlbibliogrpahie und Registern sowie einem relativ ausführlichen, chronologisch angelegten Dokumentenanhang (fast 150 Seiten). Leider ist keine Übersicht über die aufgenommenen Dokumente vorhanden. Aufgenommen sind u. a. ein Memorandum des Vorstands der Jüdischen Gemeinde Berlin über die Auswanderung nach Israel von 1947, Aide-mémoire bzw. Noten der Regierungen Israels und der DDR, Aktennotizen der SED-Führung (u. a. zu Eichmann und Globke), Einschätzungen der SED-Führung bzw. DDR-Regierung zu den Beziehungen mit Israel, Gesprächsnotizen von Vertretern von Staat, Wirtschaft und Kultur der DDR mit israelischen Repräsentanten auf verschiedenen Ebenen, Gespräche mit Vertretern der Jüdischen Gemeinden oder Arbeitspapiere des DDR-Außenministeriums.

Insgesamt bietet Timm dem Leser die Möglichkeit, Gründe, Motive und Zusammenhänge für die einseitig proarabische und antiisraelische Politik der DDR sowie für eine von Zerrbildern und Fehleinschätzungen mitgeprägte Sicht auf Israel zu erkennen. Deutlich wird, daß die Beziehungen zwischen der DDR und Israel keineswegs so monolithisch waren, wie sie oft erschienen, da das Bild von der inneren Lage und von der Außenpolitik Israels zeit- und situationsbedingten Veränderungen unterlag. Dem Resümee der Autorin kann durchaus zugestimmt werden: Staatspolitik und öffentliche Meinung der DDR waren nicht antisemitisch, Juden wurden (aufgrund dessen, daß sie Juden waren,) weder verfolgt noch diskriminiert. Doch bestand angesichts des antifaschistischen Credos im Verhältnis zur Schoah, in der Frage nach der Wiedergutmachung und in den Beziehungen zu Israel ein Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 5/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite