Eine Rezension von Karl Friedrich


Von „Aladdin“ bis „Zwerg Nase“

Ulf Diederichs: Who’s who im Märchen

Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1996, 392 S.

 

Was in den Märchen geschieht, ist wahr und doch oft genug überhaupt nicht glaubwürdig. Immer gibt es Gründe, warum gerade das Unwahrscheinliche so beliebt ist. Im Märchen tönt unaufhaltsam die Zwiegesichtigkeit der Welt, geht’s ums Leben oder ans Leben. Im Märchen lebt älteste Erfahrung, erscheint neueste Wahrheit. Und dennoch geht im Laufe des Lebens dem Märchenleser manches verloren. Er vermischt Märchenfiguren, legt sich ein Lieblingsmärchen zurecht, in dem er sich und seine Sicht auf die Welt zu erkennen vermag. Märchenforscher haben längst herausgefunden, daß Märchenfiguren im Kopf fortleben, mitunter seltsam zurechtgebogen. Sich in eine Märchenfigur hineinversetzen, das gelang nur in der Kindheit. Dennoch bleibt ein Rest Erinnerung, der dem einstigen Märchenleser lange anhaftet.

Oft sind es nur Deutungen und nicht einmal das Märchen selber, was erinnert wird. Und nach Jahren liest sich ein Märchen auch wieder ganz anders als einst. Wer sich seinen Märchen und seinen Märchenfiguren einmal wieder annähern möchte, kann dies durch Lesen jederzeit tun. Er kann aber auch im ersten Märchenfiguren-Lexikon nachschlagen, das Ulf Diederichs geschrieben hat.

In Who’s who im Märchen werden etwa 330 Märchenfiguren vorgestellt, von A bis Z, von Abu el-Hasan bis zu Zwerg Nase. Der Blick in dieses handliche Taschenbuch verrät viel, er läßt alte Leseabenteuer neu entstehen, fördert aber auch überraschende Neuigkeiten zutage. Was haben die Stadtmusikanten eigentlich mit Bremen zu tun? Wo dieses Märchen doch in der Gegend um Paderborn erzählt wird und das Märchenpersonal nie die Stadt Bremen erreicht hat. Ulf Diederichs erklärt alles, und er erzählt noch einmal die Märchen nach, Handlungen und Motive, gibt Vergleiche zu anderen Märchen, nennt Vor- und Spätformen, Weglassungen und Hinzufügungen. Auch wird erwähnt, daß es Illustrationen zu einem Märchen gibt, und es manchmal die Vorlage für eine Oper oder für einen Film wurde. Grimms „Brüderchen und Schwesterchen“ wurde als erstes Märchen unter den berühmten „Kinder- und Hausmärchen“ verbildlicht, „Hänsel und Gretel“ zählt nach einer Allensbacher Umfrage von 1990 nicht nur zum bekanntesten, sondern auch zu den „deutschesten“ aller Grimmschen Märchen.

Überall Erinnerungen, überall Entdeckungen. Der Dummling im Märchen ist nicht „der Dumme“, eher ist er schweigsam, in sich gekehrt oder etwas stoffelig, ist der unterschätzte Held, die unerkannte Figur. Nicht nur die Brüder Grimm haben dieses Märchen erzählt, auch Hans Christian Andersen hat mit „Klodshans“ 1856 ein Dummlingsmärchen geschrieben. Er hatte einen Blick für die unscheinbaren Dinge, das sind hier: eine tote Krähe auf der Landstraße, ein alter Holzschuh und sogar profaner Straßendreck. Alles Dinge, die sich als brauchbar für die Phantasie erweisen. „Dornröschen“ gehört zu den beliebtesten, zu den „allerberühmtesten“ (Diederichs) und zu den langlebigsten Märchen, denn schon im 14. Jahrhundert liegt die schöne Celandine, wie von der Göttin Themis im Zorn prophezeit, oben im Turmgemach in tiefem Zauberschlaf. Die Dornenhecke, der hundertjährige Schlaf, das alles sind Märchen-Momente, denen man, wenn auch verändert, im Leben sowieso begegnen kann. Alles, was in einem Märchen vorkommt, hat einen Sinn, einen tiefen und verborgenen zumeist. Groß ist die Wirkung des „Dornröschens“ auch auf andere Künste gewesen. Ludwig Richter, Ludwig Emil Grimm, auch Heinrich Vogeler und sogar Wilhelm Busch unterzogen Details dieses Märchens ihrer Interpretation. Es gibt über 50 Vertonungen, unter anderen welche von Rachmaninow und Hans Werner Henze, aber am bekanntesten ist das Dornröschen-Ballett von Peter Tschaikowsky, allerdings nicht nach der Grimmschen Version, sondern nach der von Perrault. Und der Leser dieses wundersamen Märchenlexikons kommt nicht von der Stelle, das Staunen nimmt kein Ende: 22 Bühnendichtungen im Zeitraum von 1855-1924 beziehen sich auf das Grimmsche „Dornröschen“, auch zehn Verfilmungen sind bekannt. Und wie an keinem anderen Märchen hat sich hier die Psychoanalyse ausgiebig versucht.

Immer wieder Vergleiche, Ähnlichkeiten, Adaptionen. Ulf Diederichs kann zu Recht verkünden: „Märchenfiguren sind also höchst präsent.“ Ungewöhnlich oft taucht die Dreizahl in den Märchen auf. Ob Bären oder Brüder, Federn, Hunde oder Schweinchen, Spinnerinnen, Schwestern oder Königskinder, die drei ist magisch und sorgt, nicht nur im Märchen, für Spannung und Verwechslung. Die „Schneekönigin“ verkörpert das Kalte, das Satte hingegen erscheint ausgiebig bei den Schlaraffen. „Schlaraffen“ kennt schon Sebastian Brents „Narrenschiff“ von 1494, Hans Sachs gibt mit seinem Fastnachtspiel „Schlauraffen Landt“ Fingerzeige auf Krisen und Hungersnöte, Zeiten, in denen die Vorstellung vom „Kuchenland“ entstand. Von hier ist es nicht mehr weit bis zu „Tischleindeckdich“. Denn da war ja auch noch der Goldesel und vor allem der Knüppel aus dem Sack. Letzterer gehört wieder einmal dem Jüngsten im Märchen, also dem, der am meisten unterschätzt, gehänselt und verspottet wird. Doch was er besitzt, ist eins von den allerbesten Dingen, die im Märchen vorkommen können, doch in der Wirklichkeit leider so selten sind. Grimms Version von diesem Märchen wurde ausgiebig illustriert, sie sollte auch wieder mehr gelesen werden, denn wo viel Geld ist, muß auch der Knüppel tanzen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 5/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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