Eine Rezension von Roland Lampe


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Still und groß

 

Bernd Wagner: Schattenmorelle
Erzählungen.

Ullstein Verlag, Berlin 1999, 222 S.

 

 

Das Buch - ein Taschenbuch - gibt vor, die autobiografischen Erzählungen von Bernd Wagner zu versammeln. Sie spannen einen Bogen von der in der Provinz verbrachten Nachkriegskindheit („Sonntags, nach zwei“, „Das Gewitter“ z. B.) über die Zeit als Lehrer („Erster Tag in S.“) und die Traum- und Fluchtgeschichten, wenn ich sie einmal so nennen darf („Bericht über ein Vorkommnis“, „Ich will nicht nach Österreich z. B.), bis hin zu den neuen Erfahrungen nach der Übersiedlung Mitte der achtziger Jahre („Der Hang“, „Ich war in Rom“).

Manche Geschichten scheinen stärker autobiografisch gefärbt zu sein („Fastnacht“), andere weniger oder überhaupt nicht („Tod von Frau Wieger“). Die schwächste Geschichte ist für mich „Das Treffen“. Sie handelt von einem sogenannten Westbesuch (die Tochter aus Lübeck besucht für einen Tag die Eltern in Ost-Berlin), der aber nicht anders abläuft bzw. erzählt wird als die meisten Geschichten, die diese Thematik zum Inhalt haben und ihren Reiz lediglich aus den grotesken Situationen beziehen, die von grotesken gesellschaftlichen Verhältnissen hervorgerufen werden. Die stärksten Erzählungen sind für mich „Mai“, „Ruhetag“ und die Titelgeschichte „Schattenmorelle“, bei deren Lektüre mir der Atem schier stehengeblieben ist, nachdem ich die letzten Zeilen gelesen hatte.

Der Rezensent fragte sich während der Lektüre - nach der dritten, vierten der insgesamt 21 Erzählungen bereits - warum er diesen Schriftsteller nicht schon früher, zu DDR-Zeiten, entdeckt und gelesen hat. Lag es daran, daß Bernd Wagner die DDR 1985 verlassen hat? Aber vorher - daran erinnert sich der Rezensent - sind etliche Bücher von ihm erschienen.

Lag es daran, daß viele der in diesem Buch abgedruckten Texte, in denen die zunehmenden Probleme des Autors mit der DDR sichtbar werden, damals nicht veröffentlicht werden durften? Aber unwahrscheinlich ist auch, daß die bereits zu DDR-Zeiten erschienenen Texte unverbindlich und belanglos waren.

Oder lag es daran, daß Bernd Wagner damals schon ein stiller, ernster, unspektakulärer Schriftsteller im besten Sinne war, ein Schriftsteller also, der sich nicht aufdrängte, sondern dessen Arbeiten man finden und entdecken mußte? (Und das wird heute - leider - auch nicht anders sein; manchmal jedenfalls wird man den Verdacht nicht los, daß die Werbung größeren Einfluß auf die Anzahl der verkauften Exemplare hat als die Qualität der Texte selbst.)

Wie auch immer, ich habe mich festgelesen an diesen kurzen, mehr als beeindruckenden Erzählungen (bzw. Kurzgeschichten), von denen jede kunstvoll durchkomponiert und sprachlich ausgefeilt, mithin ein Kunstwerk für sich ist. Man ahnt förmlich, wie sich der Autor mit seinem Gegenstand auseinandergesetzt, wie er um den genauesten sprachlichen Ausdruck gerungen hat, und das Ergebnis sind diese präzisen, poetisch ungemein dichten Texte, die unter die Haut gehen - um einmal diese abgenutzte Formulierung zu gebrauchen - und die man nicht so einfach wieder beiseite legen kann.

Die ausgewählten Texte geben Auskunft über die künstlerische Entwicklung Bernd Wagners, wie er sich in der permanenten Auseinandersetzung mit seinen Stoffen freischreibt und souveräner in der Handhabung seiner erzählerischen Mittel wird. Man spürt das wachsende Unbehagen an den gesellschaftlichen Verhältnissen, und je intensiver er nach seinem Platz in diesen Verhältnissen fragt, je näher er der Erkenntnis kommt, daß es für ihn keinen Platz gibt und geben wird, desto klarer, durchdringender werden seine Texte.

Schade, daß die Angaben zum Entstehungsjahr der einzelnen Erzählungen fehlen. Man erfährt auch nicht, ob die Texte zum ersten Mal publiziert oder bereits publizierten Büchern entnommen worden sind, es ist lediglich von einer „Erweiterten Neuausgabe“ die Rede. Einige Informationen zum Autor und seinem bisherigen Schaffen wären bei einer Sammlung von Texten, die eine schriftstellerische Entwicklung über einen längeren Zeitraum dokumentiert, sicherlich angemessen gewesen.

Der Rezensent macht sich nun auf den Weg in den Buchladen oder in die Bibliothek, um sich den Roman Paradies von Bernd Wagner zu besorgen, der laut Auskunft des Verlages jetzt schon als „der große gesamtdeutsche Gegenwartsroman“ gehandelt wird. Nun, ich bin gespannt ...


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 5/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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