Eine Rezension von Michael Dingel


cover  

Eine Liebe, die sich der Vergangenheit nicht entziehen kann

 

Aleksandar Tišma: Treue und Verrat
Roman. Aus dem Serbischen von Barbara Antkowiak.

Carl Hanser Verlag, München 1999, 304 S.

 

 

Als 1995 Tišmas Roman Das Buch Blam auf deutsch erschien, reagierte die Kritik beinahe euphorisch. Inzwischen ist der Autor dem deutschen Leser bestens bekannt. Nach seinen Romanen Der Gebrauch des Menschen (1991), Die wir lieben (1996) sowie Kapo (1997) liegt nun mit Treue und Verrat Tišmas fünfbändiger Romanzyklus, der sich mit der wechselvollen Geschichte seiner serbischen Heimat und ihrer Bevölkerung in diesem Jahrhundert auseinandersetzt, vollständig in deutscher Sprache vor. Ein Verdienst des Hanser Verlages, das nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

Im Mittelpunkt dieses kunstvoll verstrickten Romans steht der 38jährige Sergije Rudic´. Er ist ein Ruheloser, dem es nicht gelingt, seinen Platz im Leben zu finden. Schon das Verhältnis zu seinen Eltern ist von nicht wenigen Konflikten geprägt. Und deren Ehe ist nicht das, was man sich unter einer guten Partnerschaft vorstellt. Im Prinzip leben sie aneinander vorbei. Sergijes Vater ist ein erfolgreicher Zahnarzt in Novi Sad, dessen Karriere auf den Hinterlassenschaften eines ermordeten Juden beruht. Von seinem Reichtum ist ihm im sozialistischen Jugoslawien allerdings so gut wie nichts mehr geblieben. Die alternde Mutter ist von dem Wahn besessen, das Trachten ihres Gatten bestünde darin, sie hemmungslos zu betrügen. „Er hat noch Gelegenheiten. Jeden Vormittag geht er in die Ambulanz, zieht den weißen Kittel an, den ihm seine Assistentinnen waschen und stärken; sie führen ihm wie Kupplerinnen junge, füllige, zutiefst ergebene Patientinnen zu ... Er bringt sie dazu, wie Schafe ,aaa‘ zu blöken, streift und zupft sie und bedrängt mit seinem schon schlaffen Greisenbauch und den mageren, knotigen Knien ihre schwellenden Hüften, an denen er sich heimlich und gierig reibt.“

„Sie kennt kein Maß mehr“, sagt der Vater zu Sergije, „dieses Klimakterium nimmt kein Ende, und das bringt mich noch um. Weißt du, daß ich nach zweiundvierzig Jahren Ehe fast an Scheidung denke?“ So lange währen die beiden „ewigen Bünde“ des Sohnes jedoch nicht annähernd. Sein erstes Mädchen, mit dem er gemeinsam den faschistischen Besatzern Widerstand leistet, wird von diesen ermordet. Daß Treue und Verrat zusammengehören, muß er auch nach dem Krieg erfahren. Als Botschaftsangestellter in Warschau, auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung Jugoslawiens mit Stalins Sowjetunion, wird er Opfer einer Liebesintrige, die zu seiner ersten Ehe führt und mit einem Mord endet. Dieser wird aus politischer Berechnung vertuscht und der Täter zurück nach Novi Sad geschickt, wo er wieder bei seinen Eltern lebt. In Belgrad findet er Arbeit bei einem Verlag, der seichte Abenteuerliteratur aus westlichen Verlagen übersetzt. Bis er seine zweite Frau kennenlernt, mit der er eine körperlich behinderte Tochter hat, und nach der Trennung von ihr pendelt er jedes Wochenende von Belgrad nach Novi Sad. Seltsamerweise gehören diese Fahrten noch zu den glücklichen Momenten. „Als träte er erst jetzt ins Leben und könne über dessen Richtung entscheiden, und als wären diese Fahrten Erkundungsmärsche in die eine oder andere Richtung, die er wählen kann ... Das Fahrzeug hält, er steigt aus, empfangen von der Luft des bekannten Ortes, der bekannten Straßen, aus denen er in keinen Zufall und nichts Unvorhergesehenes entweichen kann, sondern die ihn, die eine wie die andere, ans Ziel führen, das erwünschte Ziel, das nur ein Ersatz für den ebenso unerwünschten Ausgangspunkt ist. Ein Deckel hebt sich und läßt ihn unter den anderen, ebenso erstickenden schlüpfen. Der einzige Trost in diesem Augenblick ist die Erkenntnis, daß die Rückkehr bevorsteht, die Fahrt an jenes andere Ziel.“

Zur entscheidenden Wende seines Lebens wird die unverhoffte Begegnung mit einer Jugendfreundin, die nach dem Krieg in Österreich geheiratet hat und nun als Touristin die Stätten ihrer Kindheit und Jugend besucht und mit ihrem Mann Unterkunft bei kinderreichen Verwandten findet. Inge, selbst kinderlos, fühlt sich nicht unwohl in diesem geordneten Chaos. Selbst jede Gelegenheit, die sich in ihrer langweiligen Ehe bietet, nutzend, ist das Gefühl, das sie für Sergije beinahe auf Anhieb empfindet, neu für sie. Sergijes Freund Eugen, sein „anderes Ich“, stellt seine schmuddelige Junggesellenwohnung fürs erste Schäferstündchen zur Verfügung, und seitdem gilt alles Streben unseres Helden dieser Frau.

Tišma erzählt oft lakonisch, seine Sprache ist zuweilen sogar spröde, selbst in Situationen voller Emotionen. „,Komm näher’, sagt er, und während sie auf die Ellenbogen gestützt zu ihm rückt, kriecht er ihr entgegen, küßt sie zwischen die Schenkel, küßt ihren Bauch, ihren Nabel, ihre Brüste, ihre Lippen, und sie vereinigen sich. Lange liegen sie übereinander, und der Schweiß verreibt ihnen den Sand auf der Haut... Schweigend studieren sie einander. Jetzt wissen sie bereits, wie wer auf welche Berührung reagiert, wie seine Lippen schwellen, die Nüstern sich weiten, die Augen dunkel werden und die schweißnasse Haut zuckt, und dabei triumphieren sie jedesmal über die Wiederholung, als wäre sie etwas Neues.“ Inge erwartet ein Kind, doch Gedanken an eine Scheidung weist sie weit von sich. Sergije ist bereit, die Verstrickungen mit allen Mitteln zu lösen, Skrupel kennt er in diesem Fall nicht. So beschwört er eine Katastrophe herauf, deren Opfer sein einziger Freund wird.

Tišmas Charakterzeichnungen sind treffend, äußerst genau und psychologisch vollendet. Als Beispiel soll hier nur Eugen erwähnt werden, der Außenseiter, der sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält, die Herzen aller Kinder erobert und Zuflucht in der Welt der Bücher findet. Auch er ist den Gespenstern der Vergangenheit ausgeliefert, ebenso wie das Liebespaar. Das „Dritte Reich“ ist auch im sozialistischen Novi Sad allgegenwärtig.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 5/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite