Eine Rezension von Edwin Kratschmer


Von der Wohltat der Sprache

Gottfried Meinhold: Frei-Sprüche

Gedichte aus vier Jahrzehnten.

Helmut Seubert Verlag, Nürnberg 1999, 112 S.

 

Der Band gibt sich äußerlich schmucklos und könnte in der großen Bücherschwemme leicht übersehen werden. Das wäre schade, denn was sich in ihm auf engem Raum zu Buche drängt, sind 133 Texte aus vier Jahrzehnten, und das sind für den Autor zwei Leben: eines in der Diktatur und eines danach.

Gottfried Meinhold, 1936 in Erfurt geboren, an der Jenaer Universität als Professor tätig, ist in den achtziger Jahren u. a. durch die von der DDR-Kulturpolitik jahrelang verhinderten Romane Molt (1982), Weltbesteigung (1984) und Sein und Bleiben (1989) bekannt geworden. Nach der Wende hat er die Prosa-Lyrik-Sammlung Lachverbot publiziert. Mit der Gedichtsammlung Frei-Sprüche legt er ein auch in den Formen vielfältiges lyrisches Resümee vor. Es sind sowohl seit langem angestaute Erfahrungsberichte, die ihn von mancher Gedankenlast befreien, als auch Landschaftsberichte, die seine Gedanken und die Sprache beflügelt haben. Dabei wird einem erneut bewußt, wie sehr Kunst eine Sache des Jahrgangs ist, wie da der Zeitwind durch die Strophen weht und Zeitsand in den Zeilen liegt. Und die Verhältnisse haben ihn zu einem Homo (re-)agens perforiert. Aber gerade diese raum-zeitliche Abhängigkeit seiner Texte macht ihre Lektüre für den, der ebenfalls hellwach durch diese Zeitläufe gegangen ist, über das Ästhetische hinaus zum eindringlichen Nach-Erlebnis. Freilich muß man eine biographisch-zeitliche Beiordnung der Texte erst über das Inhaltsverzeichnis erschließen.

Zyniker haben die Vokabel Betroffenheit liquidiert und damit eine wesentliche Reflexionskategorie annulliert. Ich setze dagegen: Meinholds Gedichte implizieren eine virulente Ästhetik der Betroffenheit. Da ist einer getroffen, bestürzt von ihn bedrängenden Ereignissen, und er reagiert nicht anders als sein Dichter-Vorfahr Neruda: Hund jault, Dichter schreibt. Und Meinhold reagiert dabei wie ein von Sprache Stigmatisierter, ein Sprachhedonist, der um die Farbe der Vokale weiß, um die Magie der Wörter, der das Phonetische dem Semantischen gleichsetzt und mit Präzision von den Dingen spricht, die er sogleich zu Klangorganismen formt. Er ist ein Ohrenmensch, der Lautungen sprechen muß, er muß den (Lebens-)Atem mithören. Ein Text ist ihm etwas rhythmisch Fließendes, Sprachqualität eine humane Kategorie. Als Phonetiker weiß er viel über Mechanismus, Funktion und Konsequenz des gesprochenen Wortes, über dessen Melodie und Akzent. Er ist einer, der Partituren hört, während er sie schreibt, der hört, wo andere lesen.

Der Titel seiner Gedichtesammlung - Frei-Sprüche - könnte auch auf die Antinomie „Schuld-Sprüche“ zielen, und im so benannten Epigramm spricht er es auch aus: „Jeder war schuldig und niemand hatte / die winzigste Aussicht auf Freispruch...“ Das ist eindeutig protestantische Sicht und befindet sich im Kapitel „Zeit-Ringe“, deren Metaphorik ja nicht nur in Richtung Jahresringe zielt, sondern auch auf Umringung, Umgürtung, Wringung, Beringung, Ringen und Niederringen. In solchem Spannungsfeld also das Kernwort Schuld. Bereits in seinem Buch Lach-Verbot, mit dem er sich 1994 zum erstenmal als Dichter bekennt, findet sich ungeschützt die „von Ohnmacht gezeichnete“ Aussage über sein 1989 „exhumiertes Gewissen“ aus der Zeit „gepreßten Gehorsams“, das ihn selbstbekennerisch „untilgbar schuldig“ spricht (Jaspers hat solche Haftung „irrationale Schuld“ genannt). Da ist dann auch die Rede von „der Tiefe meiner Feigheit“ und der „Blöße unserer Schande“. Wo findet man heute solch ehrliche „Abrechnung“? Und mancher wird diese Aufrichtigkeit auch gar nicht nachvollziehen w o l l e n, weil sie eigene Haftung einschließen könnte.

Für René Char sind Gedichte „Unterschriften“ eines, der „den Wald der Schrecknisse“ durchquert hat. Unterschriften aber bekennen, verpflichten, beurkunden, sind ein juristischer Akt, der Schuldspruch und Todesurteil besiegeln kann. Das widerspricht freilich der Annahme, daß Dichter lediglich narzißtische Spieler seien.

Meinhold ist einer, der eine „Heckenzeit“ hinter sich hat, eine Zeit der Zäune und der „verknoteten Pfade“, der „verschlossenen Wege“, als „das wilde Gesetz des Stärkeren ins Land wucherte“, eine Zeit „vergärter Tage“ und schlafloser Nächte, angefüllt mit dem Zorn eines „Erschrockenen“, „in Erwartung noch strengerer Winter“. Einer, der seinen eigenen „Hieroglyphen“ auflauert, der in seinen „Gedächtnis-Rissen“ nach einer „Wortsplitter-Spur“ tastet, der auf „Wort-Suche“ ist nach „Wort-Resten“, der nach dem „Strohhalm Wort“ greift „wie ein Schiffbrüchiger“, der sich schließlich in die „Wohltat der Sprache“ rettet und hofft, in ihr ein Exil zu finden. So ist er immer auch auf „Zauberwortsuche“ inmitten der Stein-Worte und des Worte-Sands, von dessen „LautSilbenWortScherbenGericht“ er nicht loskommt.

Dennoch schickt er sein überfälliges Wort unentwegt auf die „Flaschenpost-Wege“ und baut auf die vage Hoffnung: „Immer trägt jemand es weiter / sei es ein Wort sei’s ein Bild“, und sei’s auch nur als verlorner „Ruf über Schutt und Geröll“.

Widmungstexte verweisen in den 60er und 70er Jahren auf Hölderlin („Du aber, den ich immer von neuem erkenne“), und es gibt wohl auch Einflüsse durch Maurer und Neruda, zumindest scheinen einige langzeilige Elegien mit erhaben-rhetorischen Weltanschauungsbekundungen darauf hinzuweisen, die, beladen mit schweren Sinn-Gewichten, weit in die Geschichte zurückgreifen, während das Leben - „eingesperrt in die Kammern aus Zeit, Stunde und Tag“ - „schneidende Wege“ geht. Und Meinhold hat wohl auch Wurzeln bei Rilke. Er folgt ihm ins Château de Muzot, wo der Unbehauste Behausung gefunden hat und die „Gestirne sich zu neuen Bildern“ gefügt haben. Und Huchel ist ihm nah, dessen „verhunzter Weg“: „Gefangen, entgangen... Hausarrest und Schweig-Übel“.

Seit einigen Jahren hat Meinhold ein „Himmels-Wiesen-Wolken-Haus“ auf einem Schlacht-Feld, „blutigem Acker“, wo vor 190 Jahren Napoleon Europa kassierte. Da bäumen sich ihm die Abende, „blutige, brennende Abende“, „zerfetzte, zerflederte, zerzauste Abende“, und überziehen die Höhe mit Stöhnen. Da treibt es ihn dann fort, und er landet in der „Freiheit“: der „Gipfeltrümmerwelt“ des Wallis etwa, wo „Kluft neben Kluft“, eine Welt der „Joche und Grate“, „weitschauend ins ewige Eis“, wo waghalsig er „für Minuten dem Tal entsagen kann“, aber „im Blickfeld immer die Grenze des Scheiterns“. Oder er pilgert nach Laon und Malmaison und sucht im „gotischen Gewölbe“ nach Schatten, die ihm Bruder sein könnten.

In den 90ern mehren sich die Fragen nach seinem „Lebensbau“, dem Betrag seiner Jahre, hält er Rückblick auf „vertanes Weiterlebenseinerlei“, „gerettet für noch einen Schritt“, doch immer knapper wird der Tag und dann „dies Taumeln, wenn Schwindel zufaßt - und der Atem am Absturz“. Nun spürt er dankbarer sein „Noch-im-Sein-Sein“, obzwar ihm graut: „am ende nichts als passage“, „es wird weiter gestorben, nichts bleibt: der Name - winzigste Nennung noch“.

Und auch wenn er sich „Auf der Reise“ eskapistisch hinter scheinbar heitrer Maske positioniert, so pflügt er doch tief und beharrt er trotz Reimleier auf Elegie und landet in „schwarzem Honig“: „Skabiose Moose Habichtskraut / die stummen Wegbegleiter // Rotkäppchens Spur im Buchenlaub / Der Wolf als Wegbereiter // Am Ende stehst du ganz allein / mit Rumpelstilzchens Rätselreim“.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 5/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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