Eine Rezension von Roland Lampe


Schießt er, oder schießt er nicht?

Dirk Kurbjuweit: Schußangst

S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1998, 320 S.

 

Schießt er, oder schießt er nicht, ist das hier die Frage? Erschießt Lukas Eiserbeck, 21 Jahre alt, geboren und aufgewachsen in Erkenschwieck im Ruhrgebiet, Zivildienstleistender in Hamburg, ehemaliger Leistungssportler, den „Arzt Karadzic“ aus Bosnien, den Kriegstreiber, der gerade zu Verhandlungen in Genf weilt? Ist das eine gute Tat? Ist damit das Böse beseitigt, sind damit die Konflikte gelöst, ist damit der Krieg auf dem Balkan beendet?

Wir erfahren es auf Seite 266, aber die Frage, die man sich beim Lesen immer wieder stellt, ist vielmehr: Ist es wahrscheinlich, ist es nachvollziehbar, daß ein junger Mann, der in einer Existenzkrise steckt (Einsamkeit in der Großstadt, unerwiderte Liebe, noch nicht verarbeitete Kindheit usw.), auf solch eine ungewöhnliche Idee kommt, um sich aus der Krise zu befreien?

Damit steht und fällt das Buch. Und wir kommen zur nächsten Frage: Wahrscheinlich ist alles, nichts ist unmöglich - und schon gar nicht in der Literatur -, aber ist es auch überzeugend dargestellt, künstlerisch bewältigt also?

Die Kritiker überschlagen sich vor Lob: „Schußangst ist ein harter und verstörender, ein präziser und konsequent zugespitzter Großstadtroman“, „Dirk Kurbjuweit ist ein äußerst spannendes und subtiles Psychogramm gelungen“, „Mit einem ganz neuen Ton, kompromißlos, verstörend und engagiert belebt er die vor sich hin dümpelnde deutsche Literatur“, und Martin Walser behauptet sogar auf dem Rücktitel: „Camus würde sich freuen. Virtuoser Existentialismus ist Kurbjuweits Roman.“

In der Tat, der Roman ist gekonnt komponiert und spannend geschrieben. Der Autor handhabt verschiedene Zeitebenen, ohne zu verwirren, im Gegenteil, die verschiedenen Zeitpunkte, von denen aus eine Handlung oder eine Situation betrachtet wird, erhellen diese, setzen sie immer wieder in ein anderes Licht.

Das ist schon virtuos. Auch die Sprache, der Stil - das liest sich wie aus einem Guß, da sitzt jedes Wort, wenn man vielleicht von einigen kleinen Ausrutschern einmal absieht („... Menschen, ... denen man ansah, ... daß sich die Knochen sträubten“). Das hat man bei Remarque (Im Westen nichts Neues) oder Hein (Der fremde Freund oder Drachenblut), an deren Bücher mich Schußangst erinnert, auch nicht besser gelesen.

Das Geschehen läßt einen nicht los: die (unerwiderte) Liebe zu Isabella, die Vorbereitung auf das Attentat, die Rückblicke auf die Kindheit im Ruhrgebiet und auf die gescheiterte Sportlerkarriere, die vielen Momentaufnahmen, die Eiserbecks Leben in der Großstadt zeigen. Nein, dieser junge Mann hat es wirklich nicht leicht. Und die Lebenskrise spitzt sich immer mehr zu, und der Zeitpunkt, an dem die Tat ausgeführt werden muß, rückt immer näher ...

Der Roman lebt von seinen Figuren, von Eiserbeck selbst - man glaubt sich fast wiederzuerkennen, damals, als man Anfang Zwanzig war und selbst in der Krise steckte (natürlich ohne jemand umbringen zu wollen) -, aber auch von den vielen anderen, die immer wieder eindrucksvoll auftauchen: von Schroth, dem ehemaligen Boxer, von Elisabeth Sieveking, der Hure, von Beckmann, dem alten Krieger (lebt er noch, Wolfgang Borcherts Beckmann in Draußen vor der Tür?) - allesamt Sankt-Pauli-Figuren -, von dem Polizisten Johannsen, der Eiserbeck auf den Spuren ist, von dem ehemaligen Diskusolympiasieger Hahnenkamp, der nachts im Winter in der Außenalster schwimmt, von dem Söldner Ullrich, der schon „unten“, in Bosnien, gewesen ist, um nur einige zu nennen. Nur Isabella, die unerreichbare Geliebte, die aus Indien stammt, bleibt auch für den Leser unerreichbar, sie ist etwas unscharf gezeichnet.

Und natürlich hat das alles auch mit den neunziger Jahren in Deutschland zu tun, mit dem „verlogenen Glanz eines moralisch maroden Landes“, mit „einer jungen, großstädtischen Generation, deren Wünsche, Hoffnungen und Lebensentwürfe ebenso flüchtig sind wie die Nachrichten im Fernsehen“, mit den „Tempojahren Party-Deutschlands, irgendwo zwischen Love Parade und Sarajewo“ - aber diese Wertungen überlassen wir lieber den Journalisten.

Der Autor Dirk Kurbjuweit, geboren 1962, lebt - aha - in Hamburg und arbeitet als Redakteur für „Die Zeit“. Als Erzähler debütierte er 1995 mit dem Roman Die Einsamkeit der Krokodile. Er wurde für seine Reportagen mit dem renommierten Egon-Erwin-Kisch-Preis 1998 ausgezeichnet.

Aber kommen wir zur eingangs gestellten Frage zurück, ob der Roman künstlerisch überzeugt, die Geschichte nachvollziehbar ist. Das muß natürlich jeder Leser für sich selbst beantworten. Mein Eindruck ist zwiespältig. Einerseits kann ich nur wiederholen, daß ich von dem Stil, dem Figurenensemble, der Komposition beeindruckt bin, daß der Roman von der ersten bis zur letzten Seite spannend ist. Andererseits läßt mich dieser Lukas Eiserbeck, um den sich ja alles dreht und wendet, läßt mich sein Schicksal merkwürdig kalt. Woran mag das liegen? Vielleicht daran, daß er sich selbst nicht sieht, nicht fühlt? Oder daran, daß der Autor keine Beziehung zu ihm aufgebaut hat, daß er ihm keine Chance gibt und ihn unbarmherzig in seine Geschichte preßt, daß er sich nicht mit ihm und seiner Problematik auseinandersetzt, sondern ihn kalt und hart und unbeteiligt wie ein Wissenschaftler seziert? Oder wie ein Journalist? Haben wir es doch „nur“ mit einer Reportage oder mit einem Porträt zu tun und nicht mit einem Roman? Oder mit einem Krimi?

Das alles sind Fragen, über die man diskutieren kann. Aber der Schluß, der ist auf jeden Fall spannend, weil unerwartet - und doch auch logisch, wenn man die Geschichte noch einmal zurückverfolgt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 5/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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