Eine Rezension von Ursula Reinhold


Erinnerte Kriegskindheit

Jürgen Kleindienst (Hrsg.): Gebrannte Kinder

Kindheit in Deutschland 1939-1945.
61 Geschichten und Berichte von Zeitzeugen.

JKL Publikationen, Berlin 1998, Bd. 1, 367 S.

 

Die Reihe „Zeitgut“ hat es sich zum Ziel gesetzt, Generationserfahrungen vorzustellen, die die erlebte Geschichte von unten beleuchten. Sie macht Geschichte aus dem Blickwinkel Betroffener lebendig, die hier aus ihrem persönlichen Erleben berichten. Nach dem Band „Kindheit 1945-1950“ liegt hier eine Sammlung von Erinnerungen von Männern und Frauen vor, die den Krieg als Kinder erlebten. Die Erzähltexte, durchweg von nichtprofessionellen Schreibern verfaßt, umfassen 61 Geschichten und Berichte von Menschen, die zu den Jahrgängen zwischen 1925 und 1942 gehören. Die Berichte halten zeitsymptomatische Ereignisse fest, lassen in Erinnerungssplittern aufscheinen, wie der Krieg in die Welt der Familien und Kinder hineinwirkte. Entsprechend der Generationszugehörigkeit der Verfasser dominiert die Sicht der ohne eigenes Zutun vom Krieg gezeichneten Opfer.

Thematische Schwerpunkte bilden die Erinnerung an die Bombennächte und an das Ende des Krieges. Verschiedene Ortschaften des Krieges mit sehr unterschiedlichem Erlebnisgehalt werden lebendig. Es entsteht so ein Panorama unterschiedlicher Erlebnisformen des Krieges. Die Erfahrungen des Infernos der Bombennächte in den Großstädten wie Berlin, Hamburg, Köln und Bremen stehen neben der Idylle von ländlichen Räumen. Das Erlebnis dieses Wechselbades bestimmt viele hier dokumentierte Kindheitserinnerungen. Daneben bilden die Erlebnisse des Kriegsendes einen Schwerpunkt. Sie stellen die sehr unterschiedliche Begegnung mit den alliierten Siegern vor. Berichte über das dramatische Kriegsende in verschiedenen Bezirken Berlins stehen neben dem Erlebnis des Kriegsendes in ländlichen Regionen Süd- und Westdeutschlands. In vielen Berichten wird die Erinnerung an Flucht und Vertreibung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, aus Schlesien, Pommern, Ostpreußen und den Sudeten festgehalten.

Zeitgenössische Erinnerungsberichte besitzen vor allem dokumentarischen Wert, in dem sie viele Details der damaligen Lebensverhältnisse überliefern. So erfährt der Leser manches über das Leben der Familien, über Väter in Uniform, die Geschenke mitbrachten und dann nicht wiederkamen, über die Lebenslast der Mütter, die mit Hungerrationen ihre Kinder durchbrachten. Erinnerungen an überfüllte Züge stehen neben solchen an halbverhungerte Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, die die Trümmer wegräumen mußten. Neben dem dokumentierenden Wert ermöglichen solche Erinnerungen auch Einblicke in sozial-psychologische Befindlichkeiten. In dieser Hinsicht ist es aufschlußreich, daß sich die Erinnerung an den Krieg vor allem auf dessen letzte Jahre und das Kriegsende konzentriert. Das entspricht der Erlebnisform der Deutschen, für die, anders als bei den Polen u.a. Völkern, der Krieg existentiell erst mit seinem Ende in den Lebensalltag eingriff. Die Berichte dokumentieren in Blickwinkel und Ansicht neben den historischen Erfahrungen auch ganz zeitgenössisches Bewußtsein. In dieser Hinsicht ist es interessant, daß vor allem Momente tätiger Menschlichkeit beschrieben werden. Sie haben sich dem Bewußtsein offensichtlich am festesten eingeprägt. Dagegen werden der Schrecken und das Grauen nur wenig anschaulich in Sprache gebracht. Das verweist auf den selektiven Charakter von erinnertem Bewußtsein. Nur in wenigen Fällen wird das damalige eigene Bewußtsein rekonstruiert, obwohl die ältesten Jahrgänge, die hier zur Sprache kommen, durchaus Erinnerungen an ihre HJ-Zeit, an Schulunterricht, Lehrer usw. haben müßten. Auch der Blick auf die eigenen Elternhäuser fällt identifikatorisch aus. Die NSDAP-Mitgliedschaft der Eltern wird im Rückblick mit deren unpolitischem Bewußtsein erklärt. Auf diese Weise wird wenig von dem damaligen Bewußtsein rekonstruiert, das es ermöglichte, daß die Deutschen bis zuletzt Hitlers Krieg führten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 5/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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