Eine Rezension von Ulrich Blankenfeld


Ach ja, die Armut!

Kjell Johansson: Der Geschichtenmacher

Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann.

Claassen Verlag, München 1999, 360 S.

 

Zu Hause ist ihm der Ruhm sicher. In Deutschland ist er ein Neuling. Der Geschichtenmacher ist der erste Roman des 1941 geborenen schwedischen Schriftstellers Kjell Johansson, den ein deutscher Verlag verlegt hat. Mit dem „Geschichtenmacher“ kommt ein echter Geschichtenerzähler ins Land. Im Gegensatz zur Retorten-Literatur der Sorte Crime, Action, Thriller ist Johanssons Literatur nicht von der schlichten, direkten und einfachen Art. „Geschichten kann man zu vielem gebrauchen“, ist ein Motto des Erzählers, das er wiederholt den Lesern eintrichtert. Wie gut eine gute Geschichte für mehr als einen Menschen taugt, wird in dem Roman mehrmals vor Augen geführt. Mit dem Sinn für die Sinnbildhaftigkeit und Symbolkraft hat Kjell Johansson gefühlsstarke Geschichten seiner Generation geschrieben. Ausgewählte Geschichten der Kindheit, von denen der Ich-Erzähler sagt: „Es mag sein, daß nicht alles, was ich erzähle, immer war ist, aber ich habe alles erlebt.“ Und wenn nicht? Dann sind die Geschichten gut erfunden. Alle Geschichten machen die Wahrheit des Buches aus. Die Wahrheit hat nicht sehr viel mit der Wirklichkeit zu tun, die wir in den Köpfen haben, wenn wir an Schweden denken. Kjell Johansson nimmt mit in die vierziger und fünfziger Jahre. Nimmt mit in ein Stockholmer Armenviertel. Das ist nicht das Stockholm, das wir zu kennen glauben. Nicht das Schweden unserer Vorstellungen. Situationen und Stimmungen ähneln den Situationen und Stimmungen in den dunklen Romanen von Charles Dickens.

Johansson beschreibt detailgenau eine Kindheit, eine Familie und somit schwedische Zeitgeschichte. Die Familie Johansson ist mit keiner der gewöhnlichen Familien der ehrenwerten Edelgesellschaft vergleichbar. Die Dramen der Familie sind so dramatisch wie die vieler armer Familien. Dramatischer Kern ist der Vater, der Geschichtenmacher, für dessen lange Abwesenheit die christliche Seefahrt ebenso zutreffend sein kann wie ein geheimgehaltener Gefängnisaufenthalt. Die Anwesenheit des Arbeitslosen und Alkoholikers macht das familiäre Elend nicht nur elender. Sie bringt auch Frohsinn in die Eintönigkeit. „So also war der Mensch, in ihm wohnte ein anderer Mensch, den er nicht kannte...“, stellt der Schriftsteller fest und erzählt von den Menschen im Mensch. Mit Vorliebe von den Menschen im Vater. Der Geschichtenmacher kann in die Reihe bedeutender Vater-Romane gestellt werden.

In Kjell Johanssons Kindheits-, Vater-, Familien-, Schweden-Geschichte werden die Leser der „zivilisierten“ Welt auf Geschichten treffen, die aus eigenem Erleben vertraut sind. Trotz des autobiographischen Charakters des Romans ist der Erzähler nicht willens, sämtliche Rätsel seines Lebens zu entblättern. Von den Rätseln des Lebens zu erzählen heißt, sie zu akzeptieren und akzeptabel zu machen. Denn: „Was hat die Wahrheit mit dem Leben zu tun?“, fragt die kluge Schwester den schon berühmten Bruder Jahrzehnte nach den Kindertagen. Das Leben ist als Lüge am reichsten, als große Geschichte. Die lebt keiner so gekonnt wie der Vater. Ist er arm dran? Der Wohlstand des Mannes, in dem er angenehm lebt, sind seine Geschichten. Ist diese Wahrheit zu gar nichts zu gebrauchen? Johansson tritt den Gegenbeweis an, indem er die Vater-Geschichten der Sterblichkeit entzog. Aufgeschrieben, sind sie von der Vergänglichkeit gerettet, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschlingt.

Weil Kjell Johansson kein geringer Erzähler ist, wird keine Geschichte des Romans Der Geschichtenmacher gering. Der Erzähler beherrscht virtuos das Handwerk des Erzählers. Er versteht es, ein Spinnrad zum Surren zu bringen und zugleich die Diskette des Computers zu füllen. Weil Kjell Johansson den festen Glauben hat: „Geschichten kann man zu vielem gebrauchen.“ Der Glaube macht ihn so sicher in seiner Literatur, macht den „Geschichtenmacher“ so literarisch.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 5/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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