Eine Rezension von Bernd Heimberger


Schönheit des Schäbigen

John Irving: Witwe für ein Jahr

Aus dem Amerikanischen von Irene Rumler.

Diogenes Verlag, Zürich 1999, 762 S.

 

Zieht so was eigentlich immer: Marion, 39, Mutter zweier tödlich verunglückter halbwüchsiger Söhne, vernascht einen 15jährigen Schüler? Ist das keine scharfe Story? Anno 1958! John Irving, umjubelter Maestro der amerikanischen Unterhaltungsschriftstellerei, präsentiert die Geschichte genüßlich und ausführlich in seinem jüngsten Literaturstück. Die Entjungferung des Jünglings ist die eine Geschichte in dem 762-Seiten-Roman Witwe für ein Jahr, und die nimmt ein Drittel des gesamten Textes in Anspruch. Der Rest gehört, mehr oder weniger, der erwähnten Witwe: Ruth, der spätgeborenen Tochter von Marion.

Ruth ist Schriftstellerin. Berühmt und reich, versteht sich. Berühmter und reicher als der auch berühmte, auch reiche, auch schreibende und zeichnende Vater Ted. Als die schreibende Mutter Marion. Als der schreibende Eddie. Das ist der Unschuldsknabe, den Marion die übermütterliche, ewige Liebe lehrte. Es kommt, wie es bei Irving gar nicht anders kommen kann. Weil das ungleiche Paar nicht voneinander lassen kann und keiner von beiden stirbt, „liebten sie sich behutsam“ - nach 38jähriger Trennung. Na, ist das nix? Da fließen einem doch glatt die Augen über. Ein großes Hollywood-Happy-End! Ein gefundenes Fressen für die Märchenfilmzauberer in Kalifornien. Aus dem Stoff lassen sich einige Schicksalsscheiben schneiden, die mindestens drei Kinoschmonzetten möglich machen. Ein Melodram. Ein Thriller. Auch einen Krimi. Wie gewohnt hat Irving keinen Fehlgriff getan. Er hat wieder kräftig zugelangt, um keine Unterhaltungsnummer auszulassen. Irving ist nicht zu bremsen. Irving kocht über wie ein unbeaufsichtigter Milchtopf. Nun haben wir die Bescherung. Alles schwimmt. Alles ist eingesaut von dem Behumpsen und Gebumse, um das es in dem Buch geht, sofern es in dem Buch wirklich um was geht. Geschickt getarnt unterm Mantel des literarischen Milieus, in dem sich der Autor auskennt. Was nicht bedeutet, daß er die Leser zu Kennern des Milieus machen will. Irving hat an der „Lindenstraße“ gebaut. Irgendwann sieht alles wunderschön, wundervoll, wunderbar aus. Nicht nur Marion. Irving ist fasziniert von der Schönheit des Schlechten, Schäbigen, Scheußlichen. Künstlich veredelt sieht die erbärmliche irdische Literaturwelt doch glanzvoll genug aus. Wie tröstlich! Käme da bloß nicht immer wieder das ungute Gefühl durch die tatsächliche Literaturwelt, und Irvings Literaten haben soviel miteinander zu tun wie Wand und Tapete. Lassen Sie sich nicht zuviel von Irving erzählen! Der wird hemmungslos, wenn er die Zuhörer mal am Wickel hat. - In Witwe für ein Jahr hält sich Irving geradezu schamlos an sämtlichen Irving-Lesern schadlos. Er erzählt, ohne sich um die Ökonomie des Erzählens zu kümmern. Er hat die Kunst des Weglassens außer Kraft gesetzt. Als ertrüge er den Gedanken nicht, die Leser könnten Räume für eigene Gedanken beanspruchen, besetzt er jeden Raum. Irving ist der Igel, der immer schon da ist. Die gesamte Strecke übersteht der zum Hasen gewordene Leser nur, wenn er gelegentlich eine Auszeit nimmt. Den weiten von John Irving freigegebenen Gefühlsacker einmal betreten, klebt einem bald der Boden wie feuchter Lehm nicht nur an den Hacken. Anders gesagt: Der neue Irving ist eine Riesenabfüllung Imkerhonig. Wenn einem irgendwann das ganze Zeug unweigerlich durch die Finger rinnt, kann man die sich nur belecken oder furchtbar fluchen. Wie immer, wenn man an John Irving hängenbleibt. War dessen Witz nicht mal witziger, dessen Humor nicht mal heiterer? So süßlich war’s aber noch nie. Was immerhin was Neues wäre bei Irving.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 5/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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