Eine Rezension von Miriam Margraf


Über die mitteleuropäische und die sibirische Liebe

Silvio Huonder: Übungsheft der Liebe
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1998, 208 S.

Andreï Makine: Die Liebe am Fluß Amur
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1998, 288 S.

 

Zwei Bücher über das Erwachsenwerden, wie sie verschiedener nicht sein können: Übungsheft der Liebe von dem Schweizer Autor Silvio Huonder und Die Liebe am Fluß Amur von dem gebürtigen Sibirier Andreï Makine.

Beide Bücher tragen autobiographische Züge, beschreiben die innere und die nach außen getragene Rebellion zweier junger Männer derselben Generation, die sich aus Überkommenem, aus gesellschaftlichen Konventionen befreien wollen. Doch mit Thema und Zeitpunkt (die siebziger Jahre) enden auch schon die Gemeinsamkeiten, denn die Handlungsorte trennen rund achttausend Kilometer Luftlinie. Zwischen Europa und Ostasien liegen Welten. Silvio Huonders verwöhnter Held Fabio wächst in der erzkonservativ-bürgerlichen Schweiz auf, Andreï Makines Hauptfiguren-Trio Dimitri, Utkin und Samurai lebt im trostlosen Sibirien zu Zeiten des verknöcherten Kommunismus unter Breschnew. Fabio desertiert aus der Armee, um aus seiner Welt auszubrechen, die Sehnsucht der drei Sibirier geht gerade nach dieser westlichen Welt hin.

Huonder erzählt spritzig und in Tagebuchform die Liebesabenteuer seines Helden, der auf der Flucht vor der Militärpolizei mal in dieses, mal in jenes Bett schlüpft und dessen rebellischer Sinn in dem Maße verebbt, wie er sich mit den Unbequemlichkeiten der Illegalität auseinandersetzen muß. Ebenso - vielleicht nicht absichtslos? - verläuft die Handlung im Sande, und wir bleiben ohne den Helden, welcher sich nach Amsterdam absetzt, in der kein bißchen revolutionierten Schweiz zurück. Das Buch, nicht ohne Selbstironie und mit kleinen Seitenhieben auf die wohlsituierte Sozietät, ist amüsante, leichte Kost.

Andreï Makines poetische Sprache ist diktiert von der Weite Sibiriens. In großartigen Bildern schildert der Autor das Leben in einem Land von betörender Schönheit und abgrundtiefer Armseligkeit: die den ganzen Lebensrhythmus bestimmende Macht der Jahreszeiten, die atemberaubende Pracht und Grausamkeit der Natur, die Verödung der Seelen derer, denen seit Generationen jede Individualität abgesprochen wird, die resigniert haben - wie einst unter dem Zaren, so jetzt unter den kommunistischen Diktatoren, die leben und sterben, ohne jemals über ihren Rayon hinausgekommen zu sein, die roh und stumpf geworden sind. In dieser Welt machen sich der Held Dimitri und seine Freunde auf die Suche nach der wahren Liebe. Sie erleben Enttäuschungen und Irritationen, werden erschreckt von der Brutalität und Gleichgültigkeit der Leute, berauschen sich an der überwältigenden Landschaft, in die sie hineingeboren wurden, und gelangen zu der Überzeugung, daß das Leben mehr zu bieten hat als die Aussicht, als ewig besoffene Lastkraftwagenfahrer zu enden, aufgeweckt durch kleine und große Erlebnisse wie Olgas Schilderungen des fernen Paris, eine unfreiwillige Reise an den Pazifik und vor allem eine Serie von Belmondo-Filmen im Kino der benachbarten Kleinstadt, die eine unstillbare Sehnsucht nach der Kultur und (vermeintlichen?) Kultiviertheit des Westens auslöst.

Das Buch zieht uns in seinen Bann wie die ungestüme Eisdrift des Amur: kraftvoll und sentimental. Ein hinreißendes Buch.

Der Autor, der seit 1987 in Paris lebt und in französischer Sprache schreibt (ein Lob übrigens auch den beiden Übersetzern Holger Fock und Sabine Müller), hat bereits 1995 mit dem Roman Das französische Testament (in Deutschland 1997 bei Hoffmann und Campe erschienen) einen Bestseller veröffentlicht. Der Leselustige sollte ihn im Auge behalten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 5/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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