Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold


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Wem das Gewissen schlägt

 

John Grisham: Der Verrat
Roman. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren.

Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1999, 414 S.

 

 

Dies ist der neunte bei Hoffmann und Campe erschienene Roman von John Grisham, in den USA 1998 auf den Markt gekommen. Die Firma, der Erstling und gleich Welterfolg, hat 1990 in New York das Licht der Buchhandlungen erblickt. In neun Jahren neun Bestseller. Bis Nr. 8 hat der ebenso fleißige wie phantasievolle und spannend erzählende Autor keine Schwäche erkennen lassen. Nun macht sich die Fließbandarbeit in zweierlei Hinsicht bemerkbar.

Zum einen beginnt die Ansiedlung der Story im vertrauten Anwaltmilieu ein wenig zu langweilen. Immer dieselbe oder doch ähnliche Konstellation. Die unvermeidlichen jungen Anwälte in einer Sozietät, ehrgeizig, scharf aufs ganz große Geld, knüppeln tagaus, tagein, die Norm sind siebzig oder achtzig Wochenstunden, zu Lasten der Klienten wird sogar das Mittagessen wenn irgend möglich mit zweihundert oder dreihundert Dollar die Stunde berechnet. Fast alles, was das Leben lebenswert machen kann, wird vernachlässigt, damit die Abrechnung stimmt und man nicht hinter den anderen jungen Anwälten zurückbleibt. Die älteren und alten Herren, Teilhaber der großen Kanzlei, scheffeln im Jahr zwei oder drei oder vier Millionen Dollar, teils durch eigene Raffinesse und Routine, größtenteils durch die Leistung der jüngeren Leute, die der begehrten Teilhaberschaft hinterher hecheln. Diesen Hintergrund hat nun auch wieder Der Verrat. Soweit also bei Grisham nichts Neues.

Zum anderen ist diesmal der Spannungsbogen etwas flacher als gewöhnlich. Selbstverständlich handelt es sich bei solcher Feststellung um eine individuelle Sicht. Aber man ist von Grisham verwöhnt. Er hat doch stets ein Netz von Verwicklungen gewebt. Stets ließ er hinter diversen Ecken die eine oder andere Überraschung lauern. Man war bei ihm an einen Handlungsablauf gewöhnt, in den er Action eingebaut hatte. Hier fließt die Geschichte nicht spritzig wie ein munterer Bach, sondern eher wie ein geruhsames Gewässer dahin. Gewiß, es fehlt nicht an plötzlicher Bewegung, aber die spielt sich gleich zu Anfang auf zwei Dutzend Seiten ab: eine Geiselnahme im Hochhaus, in den heiligen Räumen der großen Kanzlei, sogar mit einem Toten, dem Geiselnehmer, einem Obdachlosen. Gewiß, es gibt außer diesem armen Teufel auch richtige Bösewichte, insbesondere einen Gangster im Maßanzug. Der jedoch tut uns nicht den Gefallen, selbst oder als Auftraggeber gewalttätig zu werden, sitzt nur gelangweilt und farblos in einer Verhandlung bei Gericht zwischen seinen Anwälten. Nein, die sonst bei Grisham florierende oder latente Gewalt spielt hier nur eingangs eine Rolle, man wartet vergebens auf dergleichen im weiteren Verlauf. Wer also ein krimiähnliches Buch erwartet, wird enttäuscht.

Deswegen oder dennoch - je nach Geschmack - ist Der Verrat ein bemerkenswerter Roman, ausgezeichnet aufgebaut, ohne Schnörkel. Man wird ihn in einem Zug lesen. Und indem Grisham die Elemente äußerer Spannung sparsam einsetzt, richtet er die Aufmerksamkeit voll auf ein soziales Problem, das in den USA eine erheblich größere Rolle spielt als in Deutschland und dem übrigen Westeuropa, obwohl es sich hierzulande offensichtlich zunehmend ausbreitet: Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit verbunden mit bitterer Armut, Hunger und im Winter schließlich Tod durch Erfrieren auf der Straße, unter den Brücken, auf der Parkbank, im Autowrack.

Die soziale Wirklichkeit ist auch in anderen Romanen von Grisham präsent. Hier aber dominiert sie in ihrer traurigsten Gestalt. Und mit ihr wird der junge aufstrebende, dem Reichtum nachjagende Jurist konfrontiert. Der von einem Polizisten erschossene Geiselnehmer war ein Obdachloser. Als der junge Anwalt, der heil davongekommen ist, den Lebensumständen des Getöteten nachspürt, beginnt er zu ahnen, wer ihn eigentlich in die Umstände getrieben hat, die den Tod als Folge einer Verzweiflungsaktion herbeiführten: Grundstücksspekulanten. Sie ließen durch jene Anwaltsfirma anderthalb Dutzend arme Leute aus ihrer Bleibe exmittieren, in die Winterkälte treiben. Unter den Opfern ist auch eine junge Frau mit kleinen Kindern. Als sie alle nachts in einem alten Auto umkommen, ist für den jungen Anwalt der Punkt erreicht, an dem er entweder, wie standesüblich, wegsehen kann oder sich für solche armen Leute einsetzen muß. Er wählt den schweren Weg, weil ihm das Gewissen schlägt. Er bringt sogar, um den Grundstücksspekulanten auf die Spur zu kommen, eine Akte der eigenen Kanzlei an sich, übt also Verrat an seiner Sozietät und deren Spekulanten-Mandanten, um Obdachlosen zu helfen, wird schließlich auf Zeit oder auf Dauer - das bleibt offen - ein Anwalt der Ärmsten.

Die für das Buch, für seine Glaubwürdigkeit ausschlaggebende Frage liegt auf der Hand: Ist es dem Autor gelungen, die Entscheidung des jungen Mannes nachvollziehbar zu machen - seine Entscheidung gegen die höchst einträgliche Karriere eines Staranwalts reicher Firmen und für die schlecht bezahlte Arbeit eines Straßenanwalts? Grisham hat diese literarische Aufgabe gelöst. Dabei verzichtet er auf jeden Kunstgriff, mit dem er dem Leser beibringen könnte, daß der junge Mann eigentlich nur edel, hilfreich und gut sein will, also frohen Mutes dem großen Geld entsagt. Vielmehr wird hier ein kleiner Antiheld aufgebaut, der sich nur zum Teil bewußt und tapfer auf die Seite der jungen und alten Straßenkinder schlägt. Zum anderen Teil wird er eher in seine neue Rolle hineingezogen, Stück für Stück, durch Erlebnisse und Gespräche, so daß er sich wie beim morgendlichen Aufwachen die Augen reibt und merkt: Ich bin ja schon fast angekommen in einer neuen Welt, und nun will ich nicht mehr zurück. In der Glaubwürdigkeit dieser Nolens-volens-Entscheidung liegt ein wesentlicher Wert des ganzen Romans.

Was die Darstellung der sozialen Verhältnisse betrifft, nimmt Grisham kein Blatt vor den Mund. Er vermeidet schrille Töne, aber läßt an Eindringlichkeit nichts zu wünschen übrig. Beklemmend die Schilderung jener Säuberungsaktionen, mit denen durch die Polizei Obdachlose aus der Innenstadt gekarrt werden, damit sie die heile Welt der reichen Leute nicht stören. Im übrigen kommen die realistischen Szenen keineswegs aus einer anonymen Stadt, sondern aus der Bundeshauptstadt Washington. Wie es dort den Mittellosen auf den Straßen geht, wie es in den Suppenküchen aussieht und in den Kirchen zugeht, die für eisige Nächte zu Notquartieren geworden sind, wie man in Washington D.C. ohne Bleibe und ohne Geld überlebt oder stirbt, ist deprimierend und empörend zugleich.

Scharf gezeichnet ist der Kontrast zwischen diesem Elend und der Saturiertheit jener Anwaltschaft, die zu den heimlichen Herrschern der USA gehört. Grisham fordert seine reichen Landsleute indirekt dazu auf, den Armen zu helfen, ihnen wenigstens jene Kleinigkeit abzugeben, die zum Überleben im Winter reicht. Diesen Appell enthält der alles in allem versöhnliche Schluß. Man kann aber auch herauslesen, daß der Autor die Art und den Umfang, wie sich die Anwaltskanzleien bereichern, ganz legal die Taschen randvoll füllen, für zutiefst ungerecht hält. Jeder Leser darf sich sein Teil denken. Und man weiß ja, daß Recht und Gerechtigkeit schon immer zwei verschiedene Kategorien waren. In den USA und anderswo ist es in dieser Hinsicht nicht anders als im alten Rom oder im noch älteren Athen, wo ein gewisser Aristoteles meinte, Knechte und Herren würden schwerlich jemals Freunde werden.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 5/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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