Eine Rezension von Horst Wagner


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Eine Selbstanzeige ohne Bezichtigungen

 

Günter Görlich: Keine Anzeige in der Zeitung
Erinnerungen.

Karl Dietz Verlag Berlin, Berlin 1999, 344 S.

 

 

Es sind in letzter Zeit viele Erinnerungen und Autobiographien erschienen von Leuten, die in der DDR irgendwie bedeutend und maßgeblich waren - interessante und weniger interessante, ehrliche und nicht ganz so ehrliche. Aber ich muß gestehen, daß ich keines dieser Bücher mit so viel innerer Anteilnahme gelesen habe wie das Görlichs. Das mag sicher daran liegen, daß hier einer schreibt, der nicht beschönigt, aber auch nicht verdammt, der weder Selbstbezichtigung übt noch in Rechtfertigung stecken bleibt. „... wir müssen auf unseren Biographien bestehen“, so Görlich, „nur so kann man leben unter den heutigen Bedingungen“. (S. 66) Ein Autor offenbart sich uns gleichsam in einer Selbstanzeige. Man kennt ihn gut aus seinen Büchern, die zu den erfolgreichsten in der DDR gehörten, und auch heute, nach dem von ihm Rückwende genannten Umbruch der Jahre 1989/90 hat er wieder seine Leserschaft gefunden. Einer, der so gar nicht in ein Schema paßt, schon gar nicht in das mancher „DDR-Vergangenheits-Erklärer“. Görlich war einer der wenigen Schriftsteller, die im SED-Zentralkomitee saßen, außerdem lange Jahre Vorsitzender des Berliner Schriftstellerverbandes. Ein Staatsnaher also, ein dogmatischer Betonkopf? Seine Bücher waren deshalb so beliebt, weil sie den Sozialismus nicht in Frage stellten, aber so gänzlich undogmatisch waren, kritisch Probleme aufwarfen. Sein wohl erfolgreichster Roman zum Beispiel Eine Anzeige in der Zeitung (1978), an dessen Titel Görlichs Erinnerungen anknüpfen, hat den Freitod eines unkonventionellen Lehrers zum Ausgangspunkt, der an einer doktrinären Umgebung scheitert. Es war - auch das paßt in kein heutiges Schema - ausgerechnet Margot Honecker, die dieses kritische Buch gegen Bedenken anderer durchsetzte. Und im 1988 erschienenen Roman Drei Wohnungen wird sogar die Frage gestellt, ob dieser Weg, auf den „man einmal geschworen hat“, wirklich der richtige ist.

Ein Reiz der Erinnerungen ist für mich, daß Görlich auf drei Zeitebenen erzählt, sie geschickt miteinander verknüpft und so zu nachdenkenswerten Sichten gelangt. Da ist einmal die Erzählerebene, das Arbeitszimmer mit Blick auf den Hamburger Michel, wohin Görlich gelangte, weil seine Frau einige Jahre bei der Katholischen Akademie in Hamburg angestellt war, für die sie noch 1989 eine Ausstellung von DDR-Kinder- und Jugendliteratur organisiert hatte. Da ist zweitens die frühe Ebene: die Kinder- und Jugendjahre, die Erinnerungen an die Eltern, die letzten Kriegstage und die Gefangenschaft im Ural; die Zeit danach als Bauarbeiter und Volkspolizist, die Arbeit als Heimerzieher, als Pädagoge und Journalist; die erste Ehe, das Erlebnis des 17. Juni 1953 und die Delegierung ans Leipziger Literaturinstitut 1958. Und da ist, sozusagen als Hauptebene, die Zeit dazwischen: die Jahre als erfolgreicher DDR-Schriftsteller und als Verbandsfunktionär. Wir erfahren, welch großen Einfluß Erwin Strittmatter auf Görlich hatte und welch herzliche Freundschaft ihn mit Gerhard Holtz-Baumert verband. Er reflektiert seine Sicht auf Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl, Walter Ulbricht und auf Erich Honecker, den er noch im Sommer 1989 nach Moskau und Magnitogorsk begleitete. Er schildert, wie ihm, als er noch an der „Anzeige in der Zeitung“ arbeitete, der Berliner SED-Chef Konrad Naumann („ein widersprüchlicher Charakter, machtbesessen, hart, oft realistisch und klug denkend“) ankündigte, er solle ins ZK gewählt werden, wie ihn das ehrte, aber auch, wie er ernüchterte; wie einflußlos im Grunde dieses Gremium war oder sich selbst machte. („Routinebetrieb, Rituale“, „Diskussionen, die eigentlich keine waren“.) Etwas zu kurz kommen mir in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzungen, die es - im Unterschied zu den ZK-Sitzungen - im Berliner Schriftstellerverband gegeben hat. Hier hält sich Görlich sehr zurück: „Ich habe Scheu, Kolleginnen und Kollegen zu nennen, die am Leben sind ... Ich will keine Wertungen, hüte mich davor.“ (S. 215) Er selbst habe zweimal versucht, seinen „Parteiauftrag“ als Berliner Vorsitzender zu beenden, doch „es siegte die Parteidisziplin, wie so oft“. (S. 212)

Manche werden Görlichs Sicht auf die Vergangenheit naiv nennen. Seine Bücher sind überhaupt alle ein bißchen naiv. Aber im positiven Sinne: nicht als kindlich oder einfältig, sondern als ursprüngliche, natürliche, den eigenen Empfindungen folgende Sicht auf die Dinge. „Aufgewachsen war ich unter einfachen Leuten, lebte in kleinen Verhältnissen ... Und die sollten mich prägen für mein ganzes Leben, mein Denken, mein Fühlen und nicht zuletzt mein Schreiben“ bemerkt er und bekennt: „... wie man liebte und liebt ... traurig war und ist, Hoffnungen hatte und hat, verzweifelt war und ist und was es sonst noch für gegensätzliche Lebensäußerungen gab und gibt, das war und ist das wirkliche Leben.“ (S. 121)

Görlich erwähnt an einer Stelle seinen Aktenkoffer, den er mitnahm aus Berlin zum Erinnerungen-Schreiben im Angesicht des Hamburger Michels. Vielleicht fehlte darin ein biographisches Nachschlagewerk? Ärgerlich jedenfalls, daß auch dem Verlag zwei offensichtliche Faktenfehler nicht aufgefallen sind. Stalin ist bekanntlich nicht am 9. März (S. 180) sondern am 5. März 1953 gestorben. Werner Lamberz kann schon deshalb nicht erst nach dem Tode Albert Nordens ins Politbüro aufgerückt sein (S. 63), weil Norden 1982 gestorben ist, Lamberz, seit 1971 PB-Mitglied, 1978 tödlich verunglückte. Das sollte man wenigstens bei einer Nachauflage richtigstellen, die dem Buch aus den eingangs erwähnten Gründen zu wünschen wäre.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 5/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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