Eine Rezension von Sibille Tröml


Martin Walsers Johann hat schon lange einen Schweizer Bruder

Otto Frei: Jugend am Ufer

Libelle Verlag, Lengwil am Bodensee 1998, 240 S.

 

Nimmt man es genau, so wäre dieses Buch eigentlich in die Kategorie „Wiedergelesen“ des „Wiederlesern“ bedürfen, wenn sie nicht gar - aus Mangel an ebensolchen - scheitern würde, denn auch in jüngeren Publikationen zur Schweizer Literaturgeschichte der Gegenwart sucht man Freis Namen vergeblich. Zu Unrecht.

Dies dachten sich wohl auch die beiden Verleger Ekkehard Faude und Elisabeth Tschiemer Faude und legten im Sommer 1998 in ihrem kleinen, nun schon ins 20. Jahr gehenden Libelle Verlag Freis titelgebendes Erstlingswerk zusammen mit seinen fünf Jahre später unter dem Titel Zu Vaters Zeit erschienenen Geschichten noch einmal auf. Da die Frankfurter Buchmesse 1998 die Schweiz wiederum zu ihrem Länderschwerpunkt erwählt hatte, konnte man auch hierzulande vom Erscheinen dieses Bandes Kenntnis nehmen und dabei nicht nur als Interessent oder Liebhaber von deutschsprachiger Schweizer Gegenwartsliteratur gleich zweimal neugierig werden. Zum einen nämlich hieß es, daß hier Geschichten erzählt werden aus einer Kindheit und Jugend, die ihre örtliche Heimat am Schweizer Ufer des Bodensees und ihre zeitliche zwischen Mitte der 20er und Mitte der 40er Jahre hat. Zum anderen erfuhr man, daß es seinerzeit u.a. der Freund Friedrich Dürrenmatt war, der Freis Manuskript Peter Schifferli und dessen Verlag Die Arche zum Druck empfahl (und ihm so einen Platz neben „Hausautoren“ wie Thornton Wilder, Antoine de Saint-Exupéry, John Steinbeck, Friedrich Dürrenmatt, Albert Camus und Gottfried Benn ermöglichte). Während für manche Literaturinteressierte gerade dieser letztgenannte, im Klappentext zu Recht werbestrategisch eingebrachte Umstand den Griff zum Buch motivieren mag - läßt er doch künstlerische Qualität erahnen - , wird es für andere wiederum die geographische Region, der historische Zeitraum oder der Erzählinhalt des Buches bzw. eben alles zusammen sein. Nicht zuletzt aufgrund dieser Einheit könnte und „sollte“ es seit dem Sommer 1998 jedoch noch eine weitere potentielle Interessengemeinde für Freis kleine, aber wirklich feine Erzählungen geben: die Leser von Martin Walsers zu diesem Zeitpunkt erstmals erschienenen Roman Ein springender Brunnen. Auch dort sind Bodensee, Kindheit und Jugend sowie Inflation bis Kriegsende die Koordinaten einer erinnerten Welt. Auch dort ist der (literaturinteressierte) Erzähler ein männlicher und auch dort wird dieser aufgrund seines Geschlechts und seines (dem Autor gleichen) Alters gegen Ende des Krieges zum Soldaten. Wesentlicher und in diesem Falle bedeutsamer inhaltlicher Unterschied ist allerdings, daß Walsers Erinnerungsbilder auf der deutschen und Freis Erinnerungsbilder auf der schweizerischen Seite des Bodensees beheimatet sind. Gerade in dem damit verbundenen Blick vom anderen Ufer dürfte denn auch ein besonderer (An-)Reiz für deutsche Leser liegen, und zwar ganz gleich, ob sie Walsers Roman bereits kennen oder nicht.

Daß dieser Anreiz indes nur ein Reiz sein kann, sei jedoch gleich vorweg gesagt, denn die Faszination, die von Freis kurzen Geschichten ausgeht, ist vielfältiger Art; sie gilt nicht nur für das Was, sondern auch für das Wie erzählt wird. Was das letztgenannte betrifft, so bestechen vor allem die Geschichten von 1973, die hier „lediglich“ ganze 77 Seiten einnehmen, während sie - wie in dem informativen und warmherzigen Nachwort von Ekkehard Faude zu erfahren ist - in der Erstausgabe dank eines „listig hochgeblasenen Satzbild[es]“ 142 Seiten umfaßten. Jetzt größtenteils nicht länger als ein bis zwei Seiten, ist jede der mit einem eigenen knappen Titel versehenen, in sich geschlossenen Geschichten eine Welt für sich und alle zusammen die - wie Faude ebenfalls mitzuteilen weiß - nicht nur erinnerte, sondern auch fiktionalisierte Welt des Erzählers. Letztere wiederum lebt von einer in der deutschen (wohlgemerkt: nicht deutschsprachigen) Literatur (leider) kaum noch zu findenden und des halb schon fast „altmodisch“ anmutenden Freude am Erzählen. Aus ihr heraus entwirft Frei nicht nur Bilder, die aufgrund ihrer Prallheit und ihrer (der naiven Malerei nahen) Unbefangenheit heutzutage ungewöhnlich anmuten und die deshalb - zumindest am Anfang - den einen oder anderen verwirren mögen. (So etwa, wenn es über einen der Dorfbewohner und dessen Lachen heißt: „Die Adern auf seiner Stirn sind wie Nudeln, der Haarschopf zuckt nach vorn und zurück, die Augen werden dick wie Pflaumen.“) Er schafft auch Erzählungen, in denen er auf erfrischende und zugleich nachdenklich machende Art den Facettenreichtum menschlichen (Er-)Lebens mit vielen seiner Höhen und Tiefen, seiner hellen und dunklen Seiten zeigt. Eingerahmt von der Geschichte der eigenen Geburt und der vom Sterben des Vaters erfährt der Leser so von „ganz normalen“ Menschen und von kauzigen Außenseitern, von alltäglichem Freud und Leid, von Leben und Sterben, von Alltäglichem, oft schon Routinemäßigem und von Außergewöhnlichem sowie von Wörtern, die meist plötzlich in die eigene Welt eindringen und die allmählich Zeit- und Weltgeschichte beschreiben. Die ganz persönliche Geschichte tritt dabei in den Hintergrund, und der Ich-Erzähler erscheint als Teil einer Gemeinschaft, in der er aufgrund seines Alters vieles einfach nur wahrnehmen und nicht deuten, werten oder erklären kann. Was dabei entsteht, ist eine lebendig-bunte Bilderfolge, bei der jedes Bild für sich und alle zusammen eine (geschlossene) Welt darstellen und bei der auch die Farbe Schwarz nicht fehlt. Sie ist - in vielfältigen Grautönen - in der eigenen kleinen (Schweizer) Welt ebenso zu Hause wie in Deutschland, das vom Zimmer unterm Dachboden aus zu sehen ist und in das man hinüberfährt, um im dortigen eigenen Wald zu jagen, um in Gastwirtschaften zu essen und zu trinken oder um Schuhe zu kaufen.

Daß trotz aller regional-nachbarschaftlichen Verbindungen die Deutschen indes in ihrer Mentalität und deshalb auch in ihrer Politik, ihrer Geschichte und ihrer Wirtschaft anders sind als die (Deutsch-)Schweizer, diese eingangs vom Vater formulierte Überzeugung zieht sich wie ein roter Faden durch die 1973er Erzählungen. Verschiedenes ist dazu, dem Nachwort zufolge, in die Geschichten aufgenommen worden, um „Zeittypisches“ der eigenen Generation einzufangen, ist also nicht vom Autor unmittelbar selbst Erlebtes, ist nicht „wirklich“ Erinnertes. Anders als Martin Walser 25 Jahre später hat Frei sich nicht allein darauf beschränken wollen aufzuschreiben, was und wie er dieses Was als Junge und als Jugendlicher - ohne späteres (Hinzu-)Wissen - wahrgenommen hat, im Gegenteil. Hier schreibt einer, der - was „sein“ Deutschland betrifft - nichts ausläßt: Inflation, Hitlerrede, Hitlerjugend, Uniformierte, die allzu laut Redende mit sich nehmen, Schilder gegen Juden, eine Plankarte für ein KZ, Krieg mit Verdunkelung (auch auf Schweizer Seite), mit Bombenangriffen auf deutsche Städte und deren Verwundeten, mit eigenem Soldatendasein und mit dem Soldatentod eines in der Schweiz aufgewachsenen Jungen, dessen deutschstämmiger Vater nicht genügend Geld aufbringen kann, um seine Familie ins Schweizer Bürgerrecht „einzukaufen“. In Freis Geschichten ist all dies gehörte, gesehene und manchmal auch direkt selbst erlebte Welt, ist kleiner Splitter im Kaleidoskop (s)einer „Jugend am Ufer“. Ein weiterer der vielen Splitter ist der Bodensee, der mal trennt, mal vereint und der für die an ihn gebundenen und mit ihm verbundenen Menschen immer einfach nur „da“ ist.

Es ist schade, daß die (daran anschließenden) 1978er Erzählungen unter anderem gerade diesen bis in die Form hineinreichenden Splittercharakter irgendwie verloren haben. Inhaltlich an die ersten Geschichten anknüpfend, findet sich in der hier vor allem geschilderten Welt des „Künstlers als junger Mann“ auch nicht mehr jene den Erzählgestus beeinflussende Spontanietät des Erstlingswerks. Frei erzählt nun traditioneller bzw. anders traditionell. Die Geschichten sind länger und weniger in sich selbst geschlossen, die eigentümlich-reizvollen Bilder sind unter anderem (kleineren) Ideen zur Literatur gewichen. Und auch der zuvor zwar geschäftige, aber fürsorglich-wachende und -bildende „Vater“ ist jetzt einem zumeist nur geschäftstüchtigen, emotional entfernten „Alten“ gewichen. - Der sich einstmals „naiv“ gebende Wortmaler blickt nun, fünf Jahre später, nicht mehr auf Bilder, sondern auf kleinere Gemälde und scheint sich diese zum Vor-Bild genommen zu haben. Er wird jedoch auch damit seine anerkennenden Liebhaber finden.

Jugend am Ufer bietet also - alles in allem - sehr viel. Neben der (Neu-)Entdeckung eines der Vergessenheit entreißenswerten Schriftstellers, der hier gleich in zwei Entwicklungsetappen kennengelernt werden kann, zeigt es beispielsweise auch die (westliche) Bodenseelandschaft als eine Region, die ungeachtet aller geographischen Nähe aufgrund politischer und wirtschaftlicher Ereignisse „auf einmal“ so unendlich weit auseinander liegen kann. Daß diese Entfernung jedoch auch Nähe und die Nähe auch Entfernung produzieren kann, das zeigt sich erst so recht, wenn man Freis Erzählungen und Walsers Roman gelesen hat. Sicherlich besteht dabei die Gefahr, den einen am anderen - sei es inhaltlich, sei es formal - messen zu wollen. Doch gerade darum kann, soll und darf es eigentlich gehen. Will man vergleichen, so kann allenfalls geltend gemacht werden, daß das eine früher und das andere später entstanden ist und daß der eine Autor das andere Werk vielleicht schon vor Entstehung seines eigenen gekannt hat. Doch das ist wiederum eine Frage für die Rezeptions- und Einflußforschung und damit ein wissenschaftliches „Problem“. Bevor dieses geklärt ist, kann erst einmal festgehalten werden: Martin Walsers Johann hat schon seit einem Vierteljahrhundert einen schweizerischen Bruder, und es ist nicht der schlechteste.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 5/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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