Eine Rezension von Karla Kliche


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Wirklich bald nur noch für Historiker von Interesse?

 

Günter de Bruyn: Vierzig Jahre
Ein Lebensbericht.

Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 1998, 265 S.

 

 

„Die Souveränität, die ich Spätentwickler gewonnen hatte, war dem Staat inzwischen abhanden gekommen“, schreibt Günter de Bruyn im vorletzten Kapitel dieser Vierzig Jahre. So ist auf eine dialektische Formel gebracht, was den Inhalt dieses ,Lebensberichts‘ im wesentlichen ausmacht: Sein Leben in der DDR, dem Staat, den er von Anfang an so wenig wie seine Grenze und später die Mauer akzeptierte, und wie er in ihm und mit ihm und seinen Funktionsträgern zu Rande kam - oder dies auch zunehmend nicht mehr konnte und wollte. Antrieb für sein Schreiben, scheint mir, war nicht nur der Wille zur Fortsetzung seiner Lebensbeschreibung, die er mit Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin bereits Mitte der achtziger Jahre begonnen hatte, sondern der Versuch einer intensiven Selbstbefragung, warum er diesem Staat nicht den Rücken gekehrt hat, sondern ausharrte, bis die deutsche Teilung, mit der er sich letztlich nicht abfinden konnte, ein Ende nahm - für ihn bereits am 9. November ’89. So ist er wohl in gewissem Sinne ein Sieger der Geschichte oder, wie er schreibt, „ein Gewinner der Niederlage“.

Aber einer, der die im obigen Zitat sich ausdrückende Selbstgewißheit kritisch befragt: „Vielleicht war das, was ich als eignen Gewinn verbuchte, nur ein Ausläufer des Stroms der Zeit gewesen“, heißt es wenige Zeilen später. Und mit diesem „vielleicht“ ist ein auf vieles in diesem Buch zutreffender abwägender Gestus bezeichnet. Vergleichsweise selten kommt hier der (Selbst-)Ironiker de Bruyn zum Vorschein wie in dem vergnüglich zu lesenden unangemessenen Versuch, sich per Pferdezucht eine unabhängige Existenz zu schaffen, oder, was Personen betrifft, die Fatalität der Position einer Cheflektorin, für die er eher Mitleid hat. In aller Schärfe dagegen zeichnet er, weil er unter dieser „Peinlichkeit litt“, wenn sich Selbst- und Siegesgewißheit mit Dummheit und vor allem mit Macht paarten. Demgegenüber kann er gelassen sein, wenn diese Macht bei „Meinungsgegnern“ fehlt, wie während seines Bayreuth-Aufenthalts 1975 in Sachen Jean Paul, oder auch - in anderer Weise- gegenüber dem machtlos gewordenen Wolfgang Harich, von dem er ein bemerkenswertes Porträt gibt.

Das Ich de Bruyn, in Distanz zu dem Staat, den er - Pazifist, Katholik, aufgewachsen in Britz (nun Westberlin) - ablehnt, ohne ihn zu bekämpfen, nimmt folglich den Standpunkt des Beobachters ein: „Das Beobachten von Menschen und Dingen, das ich mir früh antrainiert hatte ... Antrieb war das Verstehen- und Wissenwollen, eine Neugier also“. Im Kontext dieses Zitats waren es z. B. „Parteigläubige“, die n i c h t die ihm vielfach begegnende „Funktionärsbeschränktheit hatten“, hier fragt er sich: „Sind sie nun ängstlich, heuchlerisch, zynisch oder vielleicht doch ehrlich und einäugig, vielleicht auch dumm?“ Was er hier an später Stelle expressis verbis formuliert, praktiziert er jedoch von Anfang an. Sei es die Zulassungskommission zur Bibliothekarsschule, seine Lehrer dort, dann der Direktor des Instituts, Freund Helmut, später Schriftstellerkollegen, Verlagsmitarbeiter ... - Über deren Sprache und Körpersprache sucht er sie als Individuen zu ergründen: Meist stellt er deren Gespaltenheit fest, die er dann sehr differenziert bewertet.

Denn Thema ist ja nach meiner Meinung weniger Abrechnung mit der DDR - Historisch-Politisches spielt kaum eine Rolle, Ereignisse wie 17. Juni, Mauerbau, Biermann-Ausbürgerung werden vor allem reflektiert auf die eigene Situation hin -, sondern seine eigene Gespaltenheit. Angestoßen durch Freund H., nunmehr erfolgreich im Westen lebend und ihm (zutreffende?!) Vorhaltungen machend, führt er eine merkwürdig leer bleibende „Verantwortung“ für sein Bleiben ins Feld, präzisiert kurz darauf als das, was ihn „im Osten“ hielt: Mutter, Kinder, Frau, Kiefernwälder. Bereits vorher und dann immer mal wieder spricht er von seinem Ehrgeiz. Späterhin vom Sich-Einrichten hinter der Mauer, eine Passage, in der er - schwankend zwischen „man“ und „ich“ - eine verbreitete Haltung als die eigene (und umgekehrt) beobachtet.

Allerdings gibt er auch Hinweise, so daß der Leser sich seine eigenen Gedanken über die Gründe machen kann. So entscheidet er sich für den Besuch der Bibliothekarsschule in Ostberlin, weil Abitur hier keine Voraussetzung ist. Mehrfach bezeichnet er sich als einen, der nicht studiert habe. Eine Art von Minderwertigkeitsempfinden also, für das es allerdings in der DDR, wo dies für seine Generation durch einen Elitenwechsel eher die Regel als die Ausnahme war, keinen Anlaß gab, wohl aber im Westen. Auch aus den wiedergegebenen literarischen Vorlieben - die der Freunde für die (westliche) Moderne, seine eigenen eher in der Tradition der Aufklärung, einschließlich Böll - wird deutlich, daß von den Schreibintentionen, seinem Selbstverständnis als Schriftsteller her die DDR sein Gegenstand (aufklärerischer Kritik) und sein Wirkungsfeld war, nicht der Westen, auch wenn er sehr bald dort - aber eben als DDR-Autor - veröffentlicht wurde. Kurz: Erfolgreich, so schien er zu wissen, konnte er letztlich nur in der DDR sein. Er selbst formuliert dies indirekt fast am Ende des Buches und resignierend mit der „banalen Erkenntnis, daß ich bald zu denen gehören würde, deren Erfahrung nur noch Historiker interessiert“. Jedenfalls wären die hier in Erwägung gezogenen Gründe einleuchtende Motive für sein Bleiben. Ähnliche gab es - wie sich ja zum Ende der DDR zeigte - millionenfach. Und auch die dilemmatischen Situationen, die sich für den einzelnen daraus ergaben und wie sie de Bruyn schildert: vor allem Angst, für die Generation de Bruyns begründeter und körperlicher als für spätere; auf irgendeine Weise mitmachen und damit mitverschulden; das Gefühl, sich nicht als Selbst zu äußern; Schweigen; halbherzige Entschiedenheit, die zu bekennen noch jetzt schwerfällt (im Falle de Bruyns etwa die nichtformulierte Begründung für die Ablehnung des Nationalpreises ’89 mit fehlender Zeit zu rechtfertigen); der Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden; Vermeiden öffentlichen Auftretens - wer erinnert sich nicht an Schweiger, die plötzlich und spätestens im Herbst ’89 ihre Sprache fanden.

Als Schriftsteller hatte Günter de Bruyn seine Sprache sehr viel früher gefunden, wie ein Wiederlesen von Buridans Esel (1967) und Neue Herrlichkeit (1985; vgl. „Berliner Lesezeichen“ 1/97 bzw. 2/95) nochmals in Erinnerung ruft.

Überhaupt „Erinnern“. Einmal thematisiert er dies: „und es ist bezeichnend für meine Art des Erinnerns, daß ich noch genau weiß, was er [sein Institutsdirektor] und wie er es sagte, nicht aber, wie ich darauf reagierte“ - wohl kennzeichnend für nicht selbstidentisches Agieren. Mehrfach ist er betroffen, wie sein Gedächtnis für ihn Peinliches ins Abseits gedrängt hat. - Ist seinen bis zu vierzig Jahren zurückliegenden Beobachtungen zu trauen? Einmal wird von einem Tagebuch gesprochen, möglich also, daß seine Wahrnehmungen durch unmittelbar Notiertes einen hohen Grad von Authentizität haben.

Interessieren seine Erfahrungen wirklich bald nur noch Historiker? Ich meine nein. Diskrepanzen zwischen Kompetenz und Machtbefugnis sind auch heute nicht aus der Welt, Zwänge anderer Art bewirken Ängste. Sich nicht verbiegen lassen und Erringung von Souveränität - bei angemessener Respektierung des anderen - bleibt aktuell, auch unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen.

Eine Merkwürdigkeit am Rande. Der Titel des letzten Kapitels ist „Martinstag“, und es beschreibt - neben abschließenden Betrachtungen - den Besuch an den Stätten seiner Kindheit am 10. November. Dies sei sein Namenstag, da einer seiner Vornamen Martin ist. Der Tag des Heiligen Martin aber ist der 11.11., so sagen mir jedenfalls alle greifbaren Lexika ...


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 5/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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