Eine Rezension von Klaus Schuhmann


„Ich fühlte jetzt die Nachwelt auf mich starren ...“

Volker Braun: Tumulus

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1999, 44 S.

 

Der neue Gedichtband Volker Brauns unterscheidet sich von seinen früheren Lyrikbänden gleich auf mehrfache Weise: Sein Titel besteht aus einem einzigen Wort, dessen Bedeutung dem Anhang zu entnehmen ist, sein Textumfang (S. 7-41) ist kleiner als bei früheren Publikationen, das Format (24 x 16) jedoch größer. Der Grund dafür ist unschwer zu erraten: Autor und Verlag erinnern daran, daß der vielen Lesern als jugendlicher Provokateur der beginnenden sechziger Jahre bekannte Autor inzwischen jene Altersgrenze erreicht hat, die in der Bibel als die uns zugemessene bezeichnet wird. Geschrieben wurden die Texte innerhalb eines knappen Jahrzehnts zwischen 1988 und 1997. Da einige Arbeiten aus diesen Jahren anderwärts schon veröffentlicht wurden, handelt es sich um eine bewußt getroffene Auswahl, die Texte nicht einfach in loser Abfolge reiht, sondern absichtsvoll zueinander in Beziehung setzt.

Darauf läßt bereits die Dreiteilung (auch sie ist ein Novum) schließen: Beginn und Schluß je durch einen großen Text, „Traumtext“ bzw. „Lagerfeld“ überschrieben, vertreten. Der umfangreichere Mittelteil dagegen schließt an eine bei Braun schon geläufige Namensgebung an: „Der Stoff zum Leben 4: Tumulus“ und ist durch ein Motto aus der Feder Brechts gleichsam zum Binnentitel dieser Gedichtgruppe avanciert:

Vergiß nicht, dies sind die Jahre
Wo es nicht gilt zu siegen, sondern
Die Niederlage zu erfechten.

Hier findet sich dann auch das Wort Tumulus als geographischer Name für einen Kriegsschauplatz, der sich mit dem von Cäsar und dessen BELLUM GALLICUM verbindet, aber sogleich auch mit dem „Golfkrieg“ in Verbindung gebracht wird und durch das Neuwort „Küstenkino“ an heutige mediale Kriegspräsentationen erinnert. Überschrieben hat der Autor diesen Text ebenfalls - wie den Gedichtband insgesamt - mit einem Substantiv, das, ohne den zugehörigen Artikel gelesen, wie eine Übersetzung des lateinischen in ein deutsches Wort verstanden werden kann: „Totenhügel“. Nur ist dieser Ort heute nicht mehr in der Bretagne (Tumulus de Tumiac, am Golf von Morbihan) zu finden, sondern überall dort, wo auch Öl fließt und Krieg um seinen Besitz geführt werden kann.

Wie bei Brecht (und später bei Heiner Müller) wird das geschichtliche Material zum Gleichnis überhöht, dessen Zeigekraft bis in die Gegenwart herüberreichen soll, so wie es im weiteren Fortgang des Textes geschieht:

So entstehen Weltreiche / Ich sah sie fallen
Auf seinen Knochen stehnd dem Führerbunker
Grotewohlstraße im anderen Deutschland
Der überraschende Landwind in den Korridoren
Ein Lidschlag der Geschichte gegen die Verblendung
Taumelzaudernd DER TANZ AUF DER MAUER
Die Mauerspechte mit den kleinen Hämmern
Die Volksarmee sah zu das Heer der Arbeitslosen
Eine Minute in Meiner Zeit

Die in diesen und auch in den meisten anderen Texten anzutreffenden Zitate - offenkundige, die im Druckbild kenntlich gemacht und im Anhang nachgewiesen werden, und solche, die der Leser selbst erkennen soll -, die Mehrschichtigkeit des Textes und die sprunghaften Übergänge aus einer Zeit in eine andere stehen schon seit Jahren für eine Arbeitsweise dieses Schriftstellers, dessen Texte sowohl durch geschichtliche Lektüre und Zeitunglesen fundiert wie auch provoziert werden. Dabei ist Braun Chronist und Zeitzeuge zugleich, in seine Texte nicht nur als Person verstrickt, die Ich (oder Braun) sagt, sondern auch als der Textschreiber selbst, der sich beim Wort nimmt und mit in den kritischen Diskurs über sein und unser Leben einbezieht. Dafür stehen diesmal drei Gedichte, die im engeren Sinne autobiographisch geprägt sind und um den Tod kreisen: „Das Nachleben“ fixiert den Augenblick, in dem die eigene Totenmaske von Jo Jastram 1988 modelliert wurde, „Abschied von Kochberg“ einen Augenblick der Todesandrohung im Jahr 1990 und „6.5.1996“ den Todestag der eigenen Mutter in Dresden. Hinzu treten andere, für dieses Jahrhundert charakteristische Todesarten, die nicht weniger von den Niederlagen derer berichten, die angetreten waren, eine bessere Welt zu schaffen. In „Nach dem Massaker der Illusionen“ wird an Guevara erinnert („unter der Rollbahn mit abgehackten / Händen, ,der wühlt nicht weiter‘ wie / Wenn die Ideen begraben sind / Kommen die Knochen heraus“) und Waleri Chodemtschuks gedacht („Im Sarkophag des Reaktors“). In „Material XVI: Strafkolonie“ verbindet sich mit dem Schicksal von Eduard Goldstücker die Geschichte des Kafka-Forschers gleichnishaft mit der des gescheiterten „Prager Frühlings“. Vom nicht nur als Provokation gemeinten „Tod der Literatur“, wie er in den Hochzeiten der intellektuellen Revolte in der BRD verkündet wurde, berichtet „Material XV: Schreiben im Schredder“, wo von „Pfarrer Weskotts Aufgesammelten Werken“ die Rede ist, mithin von der Abwicklung einer ganzen Literatur und deren Folgeerscheinungen. Hier paradiert dann auch der Jahrmarkt heutiger und gestriger Eitel- und Nichtigkeiten und Dummheiten, der oft schon dadurch als Zivilisationsmüll decouvriert wird, wie Braun darüber schreibt - überdrüssig bis zum Ekel:

Das Feuilleton faselt auf Hiddensee
Über die MACHT DES FEUILLETONS
In das Schweigen des Meeres, ich schäme mich
Mit Schweinen gekämpft zu haben
Die ich für meine Gegner hielt, meine Genossen
Gegen die ich antrat ein treuer Verräter
In der schimmernden Rüstung der Worte
KEINE MACHT FÜR NIEMAND WIR SIND GLEICH
Getäuscht von ihrem heldenhaften Wühlen
In der Scheiße, die die Geschichte war
Und berauscht vom Mist, der die Macht war
In der Arbeitervorstadt SCHWEINEÖDE
Was für Kämpfe im Koben, und das Jauchzen
Nach Brüderlichkeit in der Jauche
Biermann klaren Augs mußte es ausbaden
In der Grube nebenan bis es ihm schmeckte
Berichteschreibende Schweine ER RESIDIERT
IN DER KANTINE DES BERLINER ENSEMBLES
UND LIESS SICH VON MIR EINE COLA BRINGEN
Grunzend an meinem Abendbrottisch
Glitschige Schweine in Amt und Würden
Was für Schlachten bis der Mist gedruckt war ...

Hier schreibt Braun in Schmerz und Zorn auch über Verrat, womit nicht nur das Verhalten einzelner Personen gemeint ist, sondern im weiteren Sinne dem Jahrhundert auf den Grund geschaut wird. Und er spricht wohl mehr pro domo, wenn er den Katastrophenchronisten Plinius fragen läßt:

Warum blieb ich mitten in der Katastrophe
Meines Jahrhunderts Die verratene Revolution
Mit allen Verrätern, die es wissen wollten
Die Sache schien es mir wert usw. ...
Ich kannte die wahre Natur der Erhebung
Bepflanzt mit roten Fahnen bis zum Gipfel, die Arbeiter-
Und Bauern schrappen im Schlamm der Verheißungen ...

Immer wieder brandet in diesen Texten der Zorn der Unerbittlichkeit gegen die eigene Person und die Welt auf, die diesen Lyriker nicht zur Ruhe und zum Gleichmaß wohlgesetzter Worte kommen läßt. Das Wort kaskadiert im Zorn und wird gebrochen und ausgestrichen in der Verzweiflung über neues Untertanen- und Herrschaftsgebaren, wofür sich sowohl in „Abschied von Kochberg“ als auch in „6.5.1996“ Beispiele finden, deren Stimmungsquell als „Spätlese / Aus der Hanglage meines Bewußtseins“ doppeldeutig genug beschrieben wird. Noch im Traum („Traumtext“) ist diese Bewußtseinslage, diesmal ins Zwielicht zwischen Nacht und Tag getaucht, gegenwärtig: „Da vorn ist die Geschichte zuende, und hier in der siebzehnten Reihe gebe ich irgendetwas von mir. Das Gefühl, daß sich das Leben in Pornografie verwandelt, oder was ist das, wenn keine Kämpfe mehr stattfinden.“ Daß das Leben gegen Ende dieses Jahrhunderts sich als eine Katastrophe erweisen könnte, sieht Braun in seinem letzten Text bestätigt, in dem sich der Kampfplatz „Tumulus“ in ein allzeitliches Rom verwandelt hat, dessen Triumphator nicht mehr Cäsar, sondern Lagerfeld heißt, wobei der Name in seiner Doppeldeutigkeit zu verstehen ist:

Rom: offene Stadt Ein Feldlager
Auf dem Laufsteg defiliert die Mode
der Jahrtausendwende Panzerhemden
Für den Beischlaf Zwei Gladiatoren
Kämpfen um den Arbeitsplatz mit Würgegriffen
Eine alte Übung, die Beifall findet
Dafür haben sie die Schule besucht ER ODER ICH
Der Gestank der Angst In seinem Imperium
Erfüllt sich Lagerfeld einen Traum EIN RUDEL
FRAUEN AUSGESUCHTE SCHÖNHEITEN
Die Winterkollektion für die Daker-Kriege
Hat ihn reich gemacht ...

Hält man sich daran, wie oft in diesem Buch der Tod in vielerlei Gestalt präsent ist, dann zeigt es weniger eine neue Phase in Brauns Stetigkeit des Schreibens an, als eine Endzeit, die nicht nur die des Jahrhunderts ist. In „Das Nachleben“ hat der Dichter sich zumindest einmal erlaubt, in die Zukunft zu schauen:

Ich fühlte jetzt die Nachwelt auf mich starren
Und lächelte gelassen VOLLER HOFFNUNG
Ins Finstre, ein Verrückter
Aus der Vorzeit, die die Hoffnung kannte


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 5/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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