Eine Rezension von Friedrich Schimmel


„Die Verwandlung der Welt in Malerei“

Anita Albus: Die Kunst der Künste

Erinnerungen an die Malerei.

Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 1997, 391 S.

 

Die Autorin dieses Buches erzählt von einer leidenschaftlichen Liebe. Von der Liebe zum Maler Jan van Eyck. Vielleicht weil sie selbst auch Malerin ist, jedenfalls ist dies auch ein vorzüglich geschriebenes Buch. Von Novalis gibt es die Bemerkung: „Durch Erklärung hört der Gegenstand auf, fremd zu sein.“ Ein Satz, der hier seine Gültigkeit erfährt. Erklärung, allerdings ein gar zu nüchternes Wort, wenn alle Stufen der peniblen Beobachtung und der kenntnisreichen Annäherung beschrieben werden. In diesem Buch ist alles leidenschaftlich und doch auch maßvoll gedacht. Jedem Kapitel ist ein gut gewähltes Zitat vorangestellt. Dem zweiten, hier „Der springende Gast“ betitelt, eins von Nikolaus von Kues. Es gibt bereits den Ton an, worüber gesprochen werden soll: „Im Gesichtssinn sind die Formen aller sichtbaren Dinge eingefaltet.“ Anita Albus markiert wichtige Punkte der Kunstgeschichte als prägnante Augen-Blicke. In diesem Kapitel gibt sie Auskunft über Voraussetzungen und Methode ihrer Arbeit. Die Auflösung des mittelalterlichen Kosmos durch Jan van Eyck steht zur Debatte, und: „Die unerhörte Kühnheit seiner Perspektive, in der Nah- und Fernsicht zusammenfallen, offenbart sich dem heutigen Betrachter nicht ohne weiteres. Ohne ihren geschichtlichen Horizont läßt sie sich nicht ermessen.“

Es geht um die dritte Dimension, um das Sehen und Erkennen, was eigentlich auf den Bildern dargestellt ist. Lange, unendlich lange, doch nie langweilig werdend, hält sich Anita Albus bei der Erforschung des van Eyckschen Bildes „Die Madonna des Kanzlers Rolin“ auf. Ein Bild, das eine Magie besitzt, nämlich die, den Betrachter in die Darstellung mit hineinzuziehen und hineinzudenken. Warum das so ist, wird ausführlich dargestellt, geradezu abenteuerlich erforscht und feinstens belegt. Die Erfahrung, die Betrachter vor Bildern gelegentlich machen, immer weiter in ein Bild „einzusteigen“, wird hier hervorragend vorgeführt, ist Kunst und Wissenschaft, Magie und Kunst zugleich. Nähe und Ferne, das waren auch die Axiome des Kunsthistorikers Erwin Panofsky, die sich die Autorin zu eigen macht. Panofsky hat sein Auge „an der Differenz von Original und Reproduktion geschult“, das Ergebnis seines Sehens ist einleuchtend und wichtig genug, um heute in Erinnerung gerufen zu werden. Anita Albus hat vollkommen recht, wenn sie schreibt: „Weder das feinste Raster noch der vielfarbigste Lichtdruck können ohne die Erinnerung des Interpreten an das konkrete Bild den verborgenen Sinn eines Kunstwerks aufscheinen lassen. Im Druck teilt sich nichts vom „Stoff“ des Bildes mit, das auf allen Ebenen der Betrachtung, vom konkreten Körper aus Schichten gebundener Pigmente bis zur Raumillusion der Darstellung auf der zweidimensionalen Oberfläche, als ein lebendiges Ganzes wahrgenommen sein will.“

Noch das kleinste Detail „im Kosmos des Malers“ Jan van Eyck enthält „einen verborgenen Sinn“. Anita Albus forscht, betrachtet, assoziiert, zitiert. Alles, was sie einbezieht in ihre Analyse, ist immer ein Fund, jeder Schritt ein Erlebnis, jedes entdeckte Symbol ein kleines Wunder. Wahrnehmen gehört zu den herrlichsten Eigenschaften des Menschen. Wer es noch nicht weiß oder womöglich im Trubel der Neuzeit vergessen hat, hier ist es wieder zu erleben und neu, auf höchstem Niveau zu erlernen.

Und es ist kein uneingelöstes Versprechen, kein mystischer Zauberwink, wenn Anita Albus Kapitel fünf mit der Erfahrung eröffnet: „Die Wahrnehmung der Bilder van Eycks wiederholt den Prozeß ihrer Entstehung. Man muß die Tore aller Sinne offenhalten, will man die Seinsfülle einer Rolin-Madonna ermessen. Aber sobald man zurücktritt, um die Einheit in der Vielfalt zu erfassen, entziehen sich die Einzelheiten mit der gleichen Notwendigkeit, mit der das Ganze nicht wahrgenommen werden kann, solange man sich im Detail verliert. Die Diskontinuität zwischen Nähe und Ferne verlangt, die Tore zu schließen.“ Außer den Bildern Jan van Eycks, deren Hintergründe und deren maltechnische Probleme genauestens untersucht werden, kommen in diesem Buch noch Schilderungen der Genres „Waldlandschaft“, „Stilleben“ und „Waldboden“ zur Sprache. Wem die einfühlsame Betrachtung der großen Figurenbilder gefiel, dem muß auch das Leben der Hummeln, Schmetterlinge und Libellen nicht Langeweile bereiten. Spaß machen auch diese Klein-Welten, nur eben auf ganz andere Art. Immer besticht der Augensinn der Autorin, die sich zugleich mit jedem Satz als Malerin, mit jedem Zitat als Kunsthistorikerin offenbart. Die Sichtbarkeit auch des Unsichtbaren, worum es ja der Malerei geht, wird zum Ereignis, das in weite, tiefe Winkel, bis hin zu den Kristallen und Pigmenten verfolgt wird.

Dann aber, im vierten Teil ihres Buch, kommt, was schon lange zu vermuten war. Der plötzliche Sprung in die Moderne. Das Kapitel „Die Umkehr des Schmetterlings“ ist eine pikant vorgetragene Kritik an der modernen Kunst. Nicht nur von verlorenen Farben in den Bildern dieses Jahrhunderts handelt dieser polemische Teil des Buches, von der „Stagnation der Malerei“ ist vehement die Rede. Das Dilemma der Künste setzt für Anita Albus nicht erst mit der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein. Viel einschneidender, geradezu hart und ein wenig übermütig lautet ihr Urteil: „Ohne Zweifel gab es auch in unserem Jahrhundert noch begnadete Maler, aber die Stagnation der Malerei hat keiner überwinden, den Verfall des Metiers keiner aufhalten können. Ihre Werke lassen sich nur nachäffen, denn ,das Spiegeln spiegelt sich nicht‘.“

Vieles daran ist wahr, und erst der nachlassende Hochbetrieb der Kunst-Aussteller wird auch bei Betrachtern und Liebhabern zu neuer, womöglich zu schrecklicher Ernüchterung führen. Doch ganz und gar hoffnungslos ist die Kunst dieses Jahrhunderts nicht.

Anita Albus, deren Zitate immer auf gründliche Kenntnisse schließen lassen, setzt ein frappierendes Wort des Dichters Jean Paul an den Schluß ihrer Arbeit, doch allein auf ein kunstvolles Spiegel-Werk läßt sich die Kunst der Maler nun auch wieder nicht reduzieren. Ihr Verdienst ist es, auf ein Geflecht aufmerksam zu machen, das eigener Wahrnehmung bedarf. Dem heutigen Groß-Betrieb der Kunst und vor allem ihrer monströsen Darbietung haftet ein Hauch von ehrwürdiger und dennoch oft mißverstandener Glaubens-Anhänglichkeit an, ein Ritual, das bereits muffig geworden ist. Die harsche Kritik dieser Autorin ist eine Stimme gegen den absurden Kunst-Betrieb der Neuzeit. Gern läse man noch mehr von den fatalen Exzessen der Gegenwarts-Hascher, von den Bild-Verdunklern und Blind-Machern. Die „Verwandlung der Welt in Malerei“ ist ein weites Feld. Und Kunst heißt ja auch, erlebte und erfundene Welt zu verwandeln.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 5/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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