Eine Rezension von Volker Strebel


Schneefeld mit Spuren

Gennadij Ajgi: Blätter in den Wind

Ausgewählte Werke, Band II.
Aus dem Russischen, Serbischen und Französischen von Felix Philipp Ingold, Erich Klein, Klaus Detlef Olof, Alma Vallazza und Ulrich Werner.

edition per procura, Wien-Lana 1998, 303 S.

 

War bereits der erste Band der zweibändigen Werkausgabe, Mit Gesang: Zur Vollendung, mehr als verdienstvoll, dieser abschließende Band, Blätter in den Wind, bestätigt das Urteil. Alma Vallazza, die nicht nur die edition per procura in Wien und im südtirolischen Lana vertritt, zeichnete auch für Übersetzungen und den hervorragenden Druck. Koordination und Satz wurden von ihr geleitet. Diese Umsicht bei der Herausgabe von Büchern, noch dazu, wenn sie schwer übersetzbare Autoren betrifft, ist so selten geworden, daß sie lobend erwähnt werden muß.

Gennadij Ajgi, 1934 geboren und tschuwaschischer Herkunft, begann nach seiner Begegnung mit Boris Pasternak seine Verse auf russisch zu schreiben. Ihm war klar, daß seine Bücher in seiner Heimat nicht verbreitet würden, zumal er in den 50er Jahren seine Arbeit im Moskauer Majakowskij-Institut aus politischen Gründen verloren hatte. Um so dankbarer war er den Herausgebern in Frankreich oder auch Deutschland, die ab den 70er Jahren seine Verse veröffentlichten.

Wer mit der Tür ins Haus fallen will, wird kaum Zugang zu Ajgis Gedichten finden. Über Umwege hinweg gewannen sie in den letzten Jahrzehnten dennoch ihre Leser und Freunde - in Rußland wie im Ausland, unter Emigranten wie unter Slawisten, unter Russophilen und Lyrikfreunden: „Der Leser ist ein nicht weniger einsamer Mensch als der Dichter, er öffnet das Buch so, als käme er zu Ihnen, um über all seine Nöte zu reden, die ihm noch nie jemand abgehört hat.“

Der vorliegende zweite Band, der Gespräche, Reden und Essays bündelt, kommentiert nicht etwa die Gedichte des ersten Bandes, sondern zeigt einen ungewöhnlich belesenen Dichter, der sich intensiv mit Ergebnissen von Dichterkollegen auseinandergesetzt hat. Ein Dialog, der auf Resonanz in Westeuropa, aber auch in Polen und den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens gestoßen ist. Eine ansehnliche Liste von internationalen Preisen und Würdigungen belegt, daß Ajgis Poesie dabei ist, den Weg zu ihren Lesern zu finden, auch wenn er im eigenen Land, in Rußland, immer noch vergleichsweise unbekannt ist.

Ajgis Literaturstudien wie auch sein Schreiben sind Versuche von Durchdringungen geheimnisvoller Verwurzelungen. Die Tradition der Avantgarde wirkt bei Ajgi nach, wenn seine Lyrik weder kommentiert noch interpretiert - das Wortgeschaffene steht für sich. Ajgi hat solcherlei bei Malevitsch gelernt, als er begriff, daß „es nicht darum geht, Gefühle wiederzugeben, ,die Welt abzubilden‘, es geht um die abstrahierte Verabsolutierung von Welterscheinungen durch den Menschen, den Dichter - eine Verabsolutierung in Gestalt sich bewegender Massen von Energie“. Der Weg dieser autonomen Form von Kunst, von Poesie, die niemandem verpflichtet ist, ist somit frei, und andere Räume und Zeiten inmitten unseres Hierseins können aufgetan werden. Anläßlich des Todes von Ajgis Mutter, die „in diesem Irgendwo-Dorf“ in Tschuwaschien gestorben war, stammen Zeilen, die das Zusammengehen des Tragischen mit den Bereichen der Stille, ja des Ewigen beschwören: „und die flocken / bringen und bringen immer wieder // die hieroglyphen Gottes zur erde...“ Über die Jahre hinweg wird der Schnee im Schaffen Gennadij Ajgis eine Folie für das Schweigen und die menschliche Unendlichkeit bilden. „Der heutige Maßstab des Menschen - Geduld und Selbstbewußtsein des Menschen - befindet sich zwischen den Kolossen formloser menschlicher Träume und realer Verzweiflung“. Ajgi weiß von den Nöten unserer Zeit, in der vieles erschwinglich zu sein scheint - in Rußland sicher in einer bedeutend verschärfteren Variante - und doch nur eine neue Stufe der Ruhelosigkeit erreicht wird. Der Leere des Konsums auch in seiner Erscheinung von Geschwätzigkeit und Bildungsgeprahle hält Ajgi letztlich die Poesie als ursprünglichste Form authentischer menschlicher Existenz entgegen: „Dem gegenüber stünde eine bewußte Aneignung, das Überprüfen des Wissens und das Abwägen, eine jahrelange Entwicklung, an deren Ende erst Kultur entsteht. Dasselbe gilt für Spiritualität, wie überhaupt für jegliche Erfahrung.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 5/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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