Wiedergelesen von Bernd Heimberger


Hans Henny Jahnn: Die Nacht aus Blei

Nachwort Josef Winkler.

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1999, 124 S.
(Erstveröffentlichung Christian Wegner Verlag, Hamburg 1956)

 

1920 wurde Hans Henny Jahnn mit dem in der Weimarer Republik renommierten Kleist-Preis ausgezeichnet. Als Juror sprach er den Kleist-Preis 1928 einer unbekannten Frau Seghers für die Novelle Der Aufstand der Fischer von St. Barbara zu. Die Anerkennung festigte Anna Seghers’ Absicht, Schriftstellerin werden zu wollen. Als dem Hamburger Jahnn in den fünfziger Jahren das Wasser bis zum Halse stand, war Seghers eine stille Vermittlerin. Der vielseitige und tätige Schriftsteller bekam den Auftrag, die Orgel für den Rundfunksendesaal in der Ostberliner Nalepastraße zu bauen. Orgel und Saal sind ein Kulturdenkmal in Deutschland, das dem Land so wichtig ist wie das literarische Werk des Hans Henny Jahnn.

„An Jahnn ist viel gesündigt worden“, schrieb vor knapp zwei Jahrzehnten der österreichische Autor Josef Winkler. Der Satz gilt! Auch im Jahr des 105. Geburtstages und des 40.Todestages. An Jahnn wird weiter gesündigt. Suhrkamp könnte Einspruch erheben. Abermals wurde Jahnns Erzählung Die Nacht aus Blei in die respektable Bibliothek Suhrkamp aufgenommen. Das ist Bringeschuld. 1956 überließen die Frankfurter dem kleinen Hamburger Christian Wegner Verlag das Risiko der Veröffentlichung. Jahnn ist ein Risiko. Auch daran hat sich nichts geändert. Das weiß, wer mit dem Namen etwas anzufangen weiß. Wer im Stand der Unschuld ist, sollte zuerst die „Editorische Nachbemerkung“ des Buches lesen. Jahnn-Anfänger gibt es von Generation zu Generation. Sie zählen so wenig Legionen wie bekennende Homoerotiker und Homosexuelle. Die als separater Druck veröffentlichte Erzählung Die Nacht aus Blei ist Teil des Gesamtwerks des gebildeten und bildenden Ästheten Hans Henny Jahnn. Im Leben wie in der Literatur feierte er das Männlich-Jugendliche als Inbegriff des Schönen. Im Sinne Platons pflegte er Meister-Schüler-Beziehungen als die untadligsten Beziehungen. Hans Henny Jahnn war ein Mensch der Tat, dem das Träumen kein simpler Trost war. Intensiver und inniger als im Leben hat er in seiner Literatur gelebt, wozu er im Leben nicht in der Lage war. Glücklich-glückloser Jahnn! Sich nicht mit den Massen gemein zu machen hieß nicht, ohne solidarischen Gemeinsinn zu sein. Sich nicht banalen Leserwünschen zu beugen bedeutete nicht, Literatur für eine Elite zu schreiben. Tatsache bleibt, daß Hans Henny Jahnn kein Mensch und Schriftsteller für die vielen war und ist.

Das Wieder-und-wieder-Lesen rückt Jahnn nicht näher an die Gegenwart. Hat sich der Schriftsteller an seiner literarischen Zukunft versündigt, als er sich hinter die Visionen eines Kafka zurückzog? Ist Die Nacht aus Blei ein Paradebeispiel für das Vermögen und Unvermögen des Prosaisten? Da Jahnn mit dem gesonderten Druck einverstanden war, muß er auch mit dem Unverständnis der Leser gerechnet haben. - Wie so oft? - Wie die Erzählung lesen? Als Vision der völligen Vereinzelung des Individuums, die darin gipfelt, das ein isoliertes Ich seinem jüngeren, sterbenden Ich begegnet? Die an sich faszinierende Idee wird in einer unwirtlichen, unwirklichen Wirklichkeit derart ins Absurde gesteigert, daß man geneigt ist, Grundlosigkeit den Grund für die Geschichte zu nennen. Was zudem Veranlassung sein könnte, über Grund oder Grundlosigkeit des Lebens nachzudenken. Der Text läßt vielerlei Assoziationen zu. Zumindest so lange, solange nicht wahrgenommen wird, daß die Erzählung nichts anderes schildert als den Alptraum eines jungen Mannes. Seine Geschichte ist Gegenstand des unvollendeten „homosexuellen Liebesromans“ - was immer das ist! - „Jeden ereilt es.“ An dem Roman saß Jahnn, als er sein Brot mit dem Orgelbau in Ost-Berlin verdiente.

Aus einem Fragment gelöst, hat Die Nacht aus Blei etwas Fragmentarisches. Als eigenständige Erzählung gelesen, hat sie etwas Konstruiertes, das so schwer hinzunehmen und zu ertragen ist wie die gekünstelte Sprache. Nicht vergleichbar mit der Schlichtheit einer Anna Seghers, der Klarheit eines Georg Büchner, der Suggestivität eines Franz Kafka. Die Stationen, die Matthieu, jener Alpträumer, in einer finsteren, toten Stadt absolviert, sind Hurenhaus, Spelunke, Kloake. Können Klischees kompletter gehäuft werden? Daß Matthieu Zwei ein Knabe ist, der aus der Kloake kam, wundert kaum mehr. „... entzünde ein Streichholz, bitte - damit wir einander wieder als etwas Wirkliches erkennen -“, verlangt der Ältere von dem Jüngeren, als sie in die Kanalisation hinabsteigen. Irgendwann sehnt sich der Leser nach einem Lichtschimmer. Den garantiert der Schriftsteller - dann doch - immer wieder mit Sätzen, die Freunde als Jahnn-Sätze schätzen. Sätze, die adoptiert wurden in der Literatur von Hubert Fichte bis Thomas Böhme. Sätze, die Allgemeingut wurden und den Verfasser anonymisierten. War’s das, was Jahnn für sich wollte? Vielzitiert ist: „Wir gehen durch die Straßen, bis unsere Liebe schlimm wird.“ Einer der leuchtenden Sätze aus Die Nacht aus Blei! Wie der: „Wir leisten Widerstand, weil wir uns selbst nicht kennen und den Nächsten noch weniger.“ Na bitte, wer sagt’s denn! Ist damit nicht alles über unsere Verhältnisse zu Hans Henny Jahnn gesagt? Wir leisten zuviel Widerstand, weil wir zu wenig kennen. Wir kennen zu wenig, weil sich zuviel widersetzt. Was nicht nur am Leser liegt. Nicht wahr, Hans Henny Jahnn?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 5/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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