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„Vom Abenteuer des Berichtens“

Im Gespräch mit Brigitte Burmeister

 

Frau Burmeister, zur Frankfurter Buchmesse wird ein neuer Roman von Ihnen erscheinen. Dieses Interview hat ein wenig auch das Ziel, durch einen Rückblick auf das, was Sie bisher geschrieben haben, vorzubereiten und - möglichst - neugierig zu machen auf das, was auf den Leser zukommen könnte.

Wenn ich mich an meine frühen Leseeindrücke von Ihrem ersten Roman, „Anders oder Vom Aufenthalt in der Fremde“ (1987), erinnere, waren diese sehr blaß. Ich meine, dies hing mit meinem Erwartungshorizont zusammen. Ich war wohl zu sehr auf Handlung/Inhalt ausgerichtet, zumal auf kritischen in dieser beginnenden Endphase der DDR. So habe ich mich immer wieder dabei ertappt, daß meine Gedanken, während ich das Schriftbild aufnahm, spazierengingen. Obwohl dieses Buch am Beginn einer turbulent werdenden Zeit erschien, hatten Sie dennoch Lesungen und eine Reihe Rezensionen. Begegnete Ihnen dabei eine Lesererwartung wie meine öfter?

Häufig und nicht unerwartet. Anders zieht ja die Leser nicht mit durch seine Handlung, die Figuren und Konflikte. Es ist also nur folgerichtig, daß man von dem Buch enttäuscht wird, wenn man es mit besagter Erwartung liest. Ich denke, man wird es dann bald aus der Hand legen. Nun ist der Roman aber auch anders gelesen worden, in Ost und West, dort stärker beachtet als ungewöhnliches Debüt aus der DDR. Und die Lauer nach klandestinen Botschaften spielte dabei sicher ihre Rolle. Zu meinem großen Erstaunen versuchte der SONNTAG damals, eine Debatte zu dem Buch zu entfachen, und veröffentlichte 1988 in zwei Nummern hintereinander Rezensionen, die sehr positiv auf den Roman reagierten. Die breite Debatte blieb freilich aus. Anders bietet kaum griffige Anhaltspunkte für eine Erörterung seiner „Botschaft“. Die ist so verwoben mit der Schreibweise, daß man sich auf diese Ebene wirklich einlassen muß, um etwas von dem Buch zu haben.

Was ich inzwischen als außerordentlich reizvoll empfinde, ist die Muße, die man sich für Ihre Texte nehmen sollte. Ein Sich-Einlassen auf Langsamkeit in der Aufnahme Ihrer Wahrnehmungsbeschreibungen, für mich wohltuend gegenüber der Bilderflut und allgemeiner Hektik. Überraschend für mich ist dabei die Fülle, die Vielfalt dessen, was Sie - auch im Alltäglichen - auf- und wahrnehmen, und deren nie sich wiederholende Beschreibung, durchaus auch komisch oder ironisch. Es ist, als sehe man mit Ihnen - und neu -, was als unwesentlich üblicherweise untergeht. Welches Arsenal von Beobachtungen müssen Sie haben! Wo und wie sammeln Sie diese?

Mir ist nicht bewußt, daß ich sammle. Ich mache auch kaum je Notizen. Was sich da ansammelt in hinteren Hirnkammern - sehr vieles davon stammt sicherlich aus Büchern, von denen ich schwören würde, daß ich sie vollständig vergessen habe -, diese unbewußten Vorräte also können auf Stichworte hin zum Vorschein kommen, eben als Erinnerungsspuren, die von einem Wort oder Satz plötzlich aufgerufen werden. Dafür habe ich kein Programm. Die einzige Voraussetzung, die ich kenne und die ich unbedingt herstellen muß für die Arbeit, ist Konzentration, so eine Art, sich innerlich leer zu machen wie ein weißes Blatt. Dann kann der erste Satz kommen, und er führt zu weiteren und weiteren, einem langen Text schließlich. Meine Beobachtungshaltung im Alltag ist, glaube ich, kein exaktes Registrieren, eher dieses Erstaunen angesichts der Welt, eine Wahrnehmung, die nicht sogleich wiedererkennt, was da ist oder sich abspielt, sondern die für Augenblicke so funktioniert, als sähe ich etwas zum erstenmal.

Sie haben, wenn ich das mal so sagen darf, ein wenig beklagt, daß Sie mit dem zweiten Roman, „Unter dem Namen Norma“, vor allem als Verfasserin eines sogenannten Wenderomans ins Gespräch gekommen sind. Ich erinnere mich, daß er viel rezensiert wurde. Er war wohl auch in der Form leichter rezipierbar als „Anders“. Vor allem rätselte man, warum denn wohl Ihre Protagonistin in Norma diese erfundene Stasi-Geschichte von sich erzählt. Dabei ist übrigens gerade dies die Passage, die an „Anders“ stark erinnert. Dort wird im Kapitel 41 über eine Figur die Position formuliert, daß sich aus einem bestimmten Satz „ganz unterschiedliche Geschichten entwickeln können“. In „Norma“ ist es mit der erwähnten Passage gerade die Eigenlogik des Erzählens, die sich aus einem Anfangssatz ergibt. In dieser Zeit - 1992 - konnte auf den Satz einer Ostdeutschen: „Es ist an der Zeit, daß Sie die Wahrheit über mich erfahren“, gegenüber einer Westdeutschen wohl nur ein so geartetes Geständnis folgen. Bleibt für mich aber die Frage, warum überhaupt sie diesen Satz sagt - psychologisch aus ihrer Situation auf dieser Party zu erklären? Um provozierend ein damals außerordentlich virulentes Klischee zu bestätigen? - Oder vielleicht doch „nur“ etwas, das jeder schon einmal erlebt hat: Man beginnt mit einem Satz und wundert sich, wohin einem die Rede geht. Als spräche ein anderer ...

Ihre Vermutungen treffen allesamt zu. Die Beweggründe von Marianne Arends - der Ich-Erzählerin aus Unter dem Namen Norma (eigentlich meinem dritten Roman, denn vor diesem gab es einen Krimi, den ich unter Pseudonym veröffentlicht habe) - sind böse und banal, sie wirken kreativ (insofern eine Geschichte entsteht) und destruktiv (die Lügengeschichte besiegelt den Bruch zwischen Marianne und Johannes, ihrem Mann). Die Passage, auf die Sie anspielen, ist ein Indiz für die gestörte, genauer: die nicht geglückte Ost-West-Kommunikation. Insofern spiegelt der Roman seine Entstehungszeit ziemlich genau, und es ist ganz richtig, ihn mit der Wende in Verbindung zu bringen. Was mich geärgert hat, war die von der Literaturkritik oder Gott weiß wem gebastelte Kategorie „Wenderoman“. Als wüßte man, was das sein soll, wurde und wird mitunter immer noch nach dem großen oder definitiven Wenderoman verlangt, und solange es den nicht gibt, steckt man ein paar andere unter das leere Dach: Nikolaikirche, Helden wie wir, Unbekannter Verlust, Unter dem Namen Norma - und liest sie auf der Folie einer imaginären Gattung. Auf die Weise werden sie immer auch als Texte wahrgenommen, die sie nicht sind, d. h. als mehr oder minder gelungene Varianten des ominösen „Wenderomans“.

Was Sie m. E. mit Ihrer Art des Schreibens bewirken wollen, scheint mir Distanz zu sein, beobachtende Distanz gegenüber dem Gelesenen. Das Gegenteil also von einer traditionell eingeüb ten Lesehaltung der Identifikation (wie sie übrigens Anders in besagtem 41. Kapitel - anhand des in satirischem Gestus wiedergegebenen positiven Entwicklungsroman - ,praktiziert‘). Und spätestens jetzt wohl sollten wir auf Ihre Beziehung zum Nouveau Roman zu sprechen kommen. Mit dessen Strömungen hatten Sie sich als Romanistin wissenschaftlich beschäftigt. Was machte diese in den endfünfziger Jahren in der französischen Literatur aufkommende Strömung für Ihr eigenes Schreiben interessant, mit dem Sie dann ab 1983 als freischaffende Schriftstellerin begannen?

Die Autoren des Nouveau Roman stellten den traditionellen Roman und seine wesentlichen Elemente wie die Fabel, den Helden, die psychologische Stimmigkeit der Charaktere, die Selbstverständlichkeit des Erzählens in Frage. Der moderne Roman sollte seine eigenen Voraussetzungen überprüfen. Nicht das, was er darstellte, sondern wie er es tat, wurde zu seinem eigentlichen Sujet erklärt. Das Interesse verlagerte sich dabei zunehmend auf die Sprache als „Material“, das der Schriftsteller in einem durchaus handwerklichen Sinn zu „bearbeiten“ und auf seine kreative Verwendbarkeit hin zu erkunden habe. Durch die Erfindung neuer Erzählformen sollten herrschende Gewohnheiten, „über die Welt zu reden“, kritisiert und verändert werden.

Ich war von den befremdlichen Texten aus Frankreich fasziniert, aber sie irritierten mich auch. Ich hatte das Gefühl, sie nicht richtig lesen zu können, und das bringt einen leicht auf gegen die Texte. Da ich mich mit der Richtung genauer beschäftigen konnte, habe ich lesen gelernt und genossen, was mir zuvor schwer genießbar erschienen war. Dieser Entdeckung folgte der Impuls, selbst auszuprobieren, was mir da an Verfahren nahegebracht wurde. Die Richtung hatte ja ein in Deutschland unbekanntes Maß an Selbstreflexion und Austausch über poetologische Fragen entwickelt. Außerdem führte sie mir praktisch vor, daß wunderbare Texte entstanden - ausdrücklich ohne den Impuls, die Welt oder die Menschheit durch Botschaften zu retten. Wahrscheinlich hatte ich von der moralischen und politischen Aufgabe des Schriftstellers eine derart lastende Vorstellung, daß mich das Credo von Alain Robbe-Grillet, frei nach Roland Barthes, sehr beflügelte: Der wahre Schriftsteller hat nichts zu sagen, er schreibt.

Kurz, ich verdanke dem Nouveau Roman einen Kontext, Begriffe und die Haltung für meine eigenen Schreibversuche, aus denen dann Anders hervorgegangen ist - kein Nouveau Roman im strengen Sinne. Dazu ist er zu „inhaltsschwer“. Mir ging es ja darum, mein damaliges Erleben und meine Ansichten von der DDR-Gesellschaft zu verwandeln in eine Textgestalt, in der sie fremd und eigenartig werden, eben anders, erfaßt von den spezifischen Bewegungen der Schreibweise oder, wie Jean Ricardou (als Theoretiker des Nouveau Roman) gesagt hat, vom „Abenteuer des Berichtens“.

Zentral für Sie ist also weniger, welche Wirklichkeit, sondern wie sie wahrgenommen wird. Daß es nicht nur eine Perspektive auf diese gibt, war ja das eigentlich Provozierende von „Anders“ zu DDR-Zeiten, wie festgestellt wurde.

Ich denke, daß es mehrere Perspektiven auf die Wirklichkeit gibt, war auch zu DDR-Zeiten, zumindest gegen deren Ende, keine provozierende Erkenntnis. Aber daß die Person, das Subjekt der Beobachtungen und Mitteilungen in diesem Roman so ambivalent und schwer durchschaubar, so undeutlich ist - das hat provoziert. Und hat auch Vereinfachungen provoziert. In einer Rezension aus dem SONNTAG hieß es beispielsweise: „Anders erschüttert nichts mehr, er ist schlimmstenfalls noch ,zu verwirren und abzulenken‘. Den ,zornigen jungen Männern‘ folgten die ,zufriedenen jungen Herren‘.“ So gesehen wäre David Anders immer noch oder jetzt erst recht ein Zeitgenosse. Sabine Kebir erblickte darin gerade seine Normalität: „Ihm, Anders, fehlt das Umfeld sowohl zur Tragödie als auch zum Drama. Er ist nicht mehr ganz Objekt, aber doch auch noch lange kein Subjekt. Er ist das sensible Symbol des heutigen Mitteleuropäers.“ Für mich ist er wahrscheinlich ein recht genaues Psychogramm von mir. Allerdings durchschaue ich die Entstehung meines Textes und mich selbst nicht tief genug, um das zu belegen.

Aber um auf Ihre Frage nach der Wirklichkeit zurückzukommen: Es geht mir nicht um „wie“ statt „was“, sondern um die Verquickung. Für jeden von uns ist Wirklichkeit das, was wir wahrnehmen und so, wie wir es wahrnehmen. Wiedergabe ist Sicht.

Damit verbunden, diskutieren Sie ja in Ihrem Schreiben eine Art Selbstwahrnehmung des Erzählens, das Erzählen selbst ist Gegenstand Ihres Schreibens.

Ja.

Ist damit gesagt, daß Sie ausschließlich in diesen Erzähldiskurs eingeweihte Leser als Ihre Adressaten betrachten?

Natürlich nicht. Wenn ich mir überhaupt ein Bild von meinen Adressaten mache, sehe ich sie gern als Leute ohne Fixierung auf einen bestimmten Erzähldiskurs, als Leute, die viel (Verschiedenes) lesen und vor allem aufmerksam, mit dem Bewußtsein, daß auch in einem Prosatext die Worte mit Bedacht gewählt sein können, daß man also auf sie achten sollte. Wenn jemand dabei dem Text sozusagen auf die Schliche kommt und aus der Wahrnehmung bestimmter Verfahren einen zusätzlichen Reiz gewinnt, desto besser. Aber ein spezielles Eingeweihtsein setze ich nicht voraus. Auch Anders, mein sicher „schwierigster“ Text, ist von Nichtkennern des Nouveau Roman mit Gewinn gelesen worden.

Zu DDR-Zeiten stand Ihre Erzählweise quer zu den überwiegend traditionellen Erzählformen. Unter dem Einfluß der Wendezeit und ihren Diskussionen näherten Sie sich in gewisser Weise diesen eher traditionellen an. Wie sollte man sich auf Ihren neuen Roman einstellen?

Der Roman, den ich gerade beendet habe, soll unter dem Titel Pollok und die Attentäterin im Herbst erscheinen. Es geht, ähnlich wie in Anders, um das „Abenteuer des Berichtens“, jedoch wird hier erzählt und kaum noch beschrieben. Und der Roman ist auch ein „Bericht von Abenteuern“, wobei die Geschichte von der Buchhändlerin Roswita Sander, ihrem Liebsten - dem Ghostwriter Jan Pollok - und dessen Auftraggeber Karl Innozenz Weiss verflochten ist mit dem Alltagsleben der Erzählerin „Karenina“ (einer arbeitslosen ehemaligen Slawistikdozentin) und ihrer Wiederbegegnung, dann Konfrontation mit der jungen Journalistin Ines Ryckoff (einer früheren Studentin).

Ich habe es in einem anderen Interview schon gesagt: Da der Erzählvorgang selber ein Teil der Geschichte ist, bewegt sich der Text auf mehreren Ebenen. Er ist komplex und sollte doch leicht zu lesen sein. Das Erfassen seiner Konstruktion mag zusätzlichen Reiz haben, mir das.

Meine Prägung durch bestimmte poetologische Standards der Moderne erscheint nicht mehr pur wie in meinem ersten Roman. Sie ist allerdings wieder stärker am Werke als bei der Erinnerungs- und Bewältigungsarbeit in Norma, doch nunmehr verbunden mit dem Vergnügen am Erzählen von Geschichten - dem Gegenstück zur ursprünglichen Leselust.

Mit den Namen „Arends“ und „Sander“, der Hauptfiguren Ihrer Romane, sind die Anagramme zu „Anders“ - vielleicht ein Corporat identity? - wohl erschöpft. Ist danach etwas ganz anderes von Ihnen zu erwarten?

Das hoffe ich. Aber ich sehe nicht im geringsten voraus, was und wie. Jetzt bin ich erst mal froh über einen Übersetzungsauftrag, der mich davor bewahrt, in das schwarze Loch der Erfüllungsmelancholie zu stürzen. Und ich vertraue darauf, daß sich in den kommenden Monaten der motorische Impuls anbahnt, wieder einen Text zu schreiben. Alles weitere ist dann erfahrungsgemäß Entdeckung und Überraschung, ein maulwurfsartiger Klärungsprozeß im Lauf der Arbeit.

Das Gespräch führte Karla Kliche


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 5/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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